Das fragwürdige Ende des Telefons:Müller!

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Auf ein akustisches Signal hin hält man ein Gerät ans Ohr und ruft den Nachnamen in die Stille: Telefonieren hat wenig mit Eleganz zu tun. Das Telefon wird dennoch nicht aussterben.

Alex Rühle

Schön ist es eine These zu haben. Schöner noch, wenn sie mit dem halbstarken Absolutheitsanspruch der Endgültigkeit daherkommt. Als der Sprachwissenschaftler und Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell 1876 mit seinem gerade erfundenen Fernsprechapparat zu Samuel F. B. Morse lief, in der Hoffnung, dass der ihm die Rechte für das Patent abkaufen würde, schüttelte Morse über die groteske Nutzlosigkeit der neuen Maschine den Kopf, ja, er und seine Mitarbeiter bei Western Union lehnten die absurde Erfindung mit einstimmiger Belustigung ab:

Werden wir bald unsere letzten Telefongespräche führen wie Kim Basinger im Film "Final Call"? Bis jetzt halten wir an dem merkwürdigen Apparat fest - trotz SMS und E-Mail. (Foto: dpa)

"Bells Apparat benutzt nichts als die menschliche Stimme, die man nicht konkret zu fassen bekommt. Wir überlassen es Ihrem eigenen Urteil, ob irgendein Mensch, der bei Verstand ist, seine Geschäftsangelegenheiten mittels eines solchen Apparates übertragen wollen würde." Und wie sie wollten. Bereits zwei Jahre später gab es in den USA 14.000 Telefonanschlüsse.

Soeben verkündete nun der Wissenschaftsjournalist Clive Thompson auf Wired.com vollmundig "den Tod des Telefonanrufs". Grund: Es werde weniger telefoniert als noch vor fünf Jahren. Nun geht zwar - zumindest in den USA - tatsächlich seit 2005 die Zahl der Telefonanrufe kontinuierlich zurück. Und die Anrufe werden auch immer kürzer: Dauerte ein Gespräch vor fünf Jahren durchschnittlich drei Minuten, so hat man sich mittlerweile anscheinend schon nach 90 Sekunden nichts mehr zu sagen.

Außerdem verdienen die Anbieter weltweit längst mehr Geld durch Datenübertragung als durch Anrufe. Viele junge Leute, so Thompson, würden ihre Handys überhaupt nicht mehr zum Telefonieren nutzen. Er behauptet, einer seiner Studenten habe nicht einmal mehr gewusst, wo bei seinem Smartphone die Telefontaste sei. Mag ja sein - aber bedeutet das den Tod des Telefonanrufs?

Der französisches Wirtschaftswissenschaftler, Politikberater und Autor Jacques Attali reagierte auf Slate.fr auf Thompsons Text mit einem bunten Strauß geradezu ekstatisch gewagter Thesen: Das Aussterben des Telefongesprächs liege daran, dass die Stimme weniger vertrauenswürdig sei als geschriebener Text.

Und dass wir eben hoffnungslose Narzissten seien: Unsere Kultur der individuellen Freiheit habe uns dazu verführt, uns nur noch für uns selber zu interessieren. Weshalb wir uns mehr und mehr in die "Blase" der Internetkommunikation zurückzögen, wo wir ja mit uns und unseren narzisstischen Spiegelbildern alleine seien.

Der Telefonanruf - ein akustischer Sprengsatz

Was für ein grober Unsinn. Die SMS und die Mail sind bestimmt nicht egozentrischer als das Telefongespräch. Im Gegenteil, als Kommunikationstechnik sind sie erstmal weitaus höflicher. Es ist der Telefonanruf, der in der Interaktion etwas geradezu Grobmotorisches hat. Man stört den Anderen, ohne zu wissen, was der gerade tut.

Alfred Döblins Prognose aus den zwanziger Jahren, durch das Telefon werde "ein neuer Menschentyp" entstehen, dürfte sich kaum bewahrheitet haben. Aber mit dem Satz, durch das Telefon wohne "niemand mehr allein", hatte er zumindest teilweise recht: Jemanden anzurufen hat etwas vom unangemeldeten Eintreten in die Wohnung. Jemanden abends um elf anzurufen, hat etwas vom Eintreten der Wohnungstür.

Wie elegant und diskret ist zu solchen Tageszeiten dagegen die SMS oder Mail, sie gleicht einem vorsichtigen Anklopfen, während das Telefon zu solcher Uhrzeit wie ein akustischer Sprengsatz mitten in der Wohnung hochgeht.

Das Telefonieren, genauer gesagt der Moment der Gesprächseröffnung, ist ja ohnehin eine der bizarrsten Kulturtechniken, die je ersonnen wurden. Auf ein akustisches Signal hin lässt man alles stehen und liegen, hält sich was ans Ohr, als würde man salutieren und ruft dann den eigenen Nachnamen in die Stille der eigenen vier Wände: "Müller!"

Es ist kein Zeichen für den Verfall der Sitten, dass sich mehr und mehr Menschen mit einem abwartend fragenden Hallo melden, sondern ein Zeichen für ein ruhiges Selbstbewusstsein. Soll doch der Anrufer erstmal Farbe bekennen, schließlich will der etwas von Einem.

Lange Gespräche mit guten Freunden

Gegen Jacques Attalis Narzissmus-These sprechen auch die Untersuchungen des Sozialpsychologen Chris Wilson. Als Wilson Gespräche bekannter Politiker untersuchte, fiel ihm auf, dass sich die Unterhaltungen übers Telefon stark vom Vieraugengespräch unterschieden. Am Telefon sprachen die Politiker durchschnittlich nur 13 Minuten miteinander, im direkten Gespräch eine dreiviertel Stunde.

Außerdem konnte am Telefon der jeweilige Sprecher gerade mal 15 Wörter sagen, bis sich sein Gegenüber einschaltete, während es in der persönlichen Begegnung fast doppelt so viele waren. Wilson vermutete, man falle einander am Telefon deshalb so viel schneller und häufiger ins Wort, weil es leichter ist, unhöflich zu sein, wenn man den Anderen nicht sieht.

So ist es nur verständlich, dass wir die SMS und die Mail immer öfter dem Telefongespräch vorziehen: Man lässt dem Anderen die Wahl zu reagieren oder auch nicht. Der Andere muss nicht den eigenen Nachnamen in die Stille der eigenen vier Wände rufen, sondern kann selbst entscheiden, wann er sich zurückmeldet.

Jeder kann soviel schreiben, wie er will. Man kann, anders als im Telefongespräch, nochmal überdenken, was man so von sich gibt. Und man kann mittlerweile auch sicherer sein, dass der Andere die Botschaft wahrnimmt, als wenn man auf den Anrufbeantworter oder die Mailbox redet: Ein Fünftel aller Anrufe werden heute gar nicht mehr abgehört.

Was nun Clive Thompsons These vom Verschwinden des Telefonierens angeht, die dürfte heillos übertrieben sein. Aber es spricht einiges dafür, dass man für zweckgebundenen Informationsaustausch immer seltener telefonieren wird. Das Telefon dürfte zu einer Art Premium-Medium werden, für die langen Gespräche am Abend, mit guten Freunden.

© SZ vom 14./15.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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