Herta Müller und Oskar Pastior:Die Mondlandung

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Gut, dass er tot ist und das nicht mehr erleben musste: Herta Müller und andere Kollegen des Geheimdienst-Spitzels Oskar Pastior reagieren mit Anteilnahme auf die Enttarnung des Dichters.

Lothar Müller

Es ist eine betrübliche Nachricht: Der rumäniendeutsche Schriftsteller Oskar Pastior, der im Oktober 2006 starb, kurz bevor er den Georg Büchner-Preis hätte entgegennehmen sollen, war laut Aktenlage von 1961 bis 1968 Informant des rumänischen Geheimdienstes Securitate (SZ vom 17. September). Sie habe zunächst "Erschrecken, auch Wut" verspürt, als sie das erfuhr, sagte in Berlin in einer ersten Reaktion die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die mit Pastior eng befreundet war. Aber auf dieses Erschrecken sei rasch ein Gefühl der "Anteilnahme" und "Trauer" gefolgt. Und in Bukarest wählte der rumänische Dichter Mircea Dinescu, zu Zeiten des Ceaucescu-Regimes ein von der Securitate verfolgter Intellektueller, das gleiche Wort. Die Nachricht habe ihn mit Trauer erfüllt. Und fügte hinzu, sie tue seiner Sympathie für Pastior keinen Abbruch: "Gut, dass er tot ist und seine Enttarnung nicht mehr erleben musste."

Sie habe zunächst "Erschrecken, auch Wut" verspürt, sagte Herta Müller über die Enttarnung ihres Freundes Oskar Pastior. Aber auf dieses Erschrecken sei rasch ein Gefühl der "Anteilnahme" und "Trauer" gefolgt. (Foto: dpa)

Dinescu ist Mitglied im Leitungsrat der Behörde zur Verwaltung der Securitate-Akten (CNSAS). In deren Akten haben der Historiker Stefan Sienerth und der Germanist Peter Motzan die handschriftliche Verpflichtungserklärung Oskar Pastiors vom 8. Juni 1961 gefunden, als IM "Otto Stein" tätig zu werden. Im Faksimile ist das Dokument dem Aufsatz angehängt, in dem Stefan Sienerth die Ergebnisse seiner Recherchen zusammenfasst ("Ich habe Angst vor unerfundenen Geschichten". Zur Securitate-Akte von Oskar Pastior, in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas. Jahrgang 2010, Heft 3, München 2010).

Das Zitat, das Sienerth als Titel seines Aufsatzes gewählt hat, entstammt Aufzeichnungen Pastiors über die Tücken der Erinnerung, über das Ineinanderfließen von Erinnerung und Erfindung. Diese Notizen sind in der von Ernest Wichner und Lutz Dittrich erarbeiteten Ausstellung "Herta Müller. Der kalte Schmuck des Lebens" zu sehen, die in München ihren Auftakt hatte und seit diesem Samstag im Berliner Literaturhaus gezeigt wird.

Denn sie gehören zur Vorgeschichte des Romans "Atemschaukel" (2009), in dem Herta Müller die Erinnerungen Oskar Pastiors nutzte, um die Geschichte der Deportation der Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager am Ende des zweiten Weltkrieges zu erzählen. Pastior hatte im Januar 1945 zu den Deportierten gehört und war erst 1949 zurückgekehrt. "Ich habe Angst vor unerfundenen Geschichten" - das ist in der Tat eine Schlüsselformel für die intellektuelle Existenz und das poetische Werk Oskar Pastiors. Denn es ist das Werk eines Entkommenen, der zum experimentellen Dichter und Sprachspieler nicht aus der Lust am Spiel wurde, sondern in der Suche nach dem linguistischen Gegenpol - man könnte auch sagen: dem Jenseits - zur Sprache der Akten.

Ernest Wichner, selbst aus dem Banat stammend, Leiter des Berliner Literaturhauses und Herausgeber der Oskar-Pastior-Werkausgabe, hat wie die Münchner Wissenschaftler im Bukarester Securitate-Archiv recherchiert. Sein Ausgangspunkt, sagte er der SZ, war eine Notiz Pastiors: "Was wird in meiner Securitate-Akte zu lesen sein? Was wird nicht darin zu lesen sein?" Es musste also eine Akte geben. Wichner hat darin über den von den Münchnern dokumentierten, nicht sehr gravierenden Fall einer Anschwärzung keine weiteren belastenden Berichte von "Otto Stein" gefunden. Es gab Offiziersvermerke, die belegen, dass ihm speziell die Beobachtung von Schriftstellerkollegen wie Paul Schuster und Dieter Schlesak abverlangt wurde. Aber es gibt keine Berichte über diese Autoren.

Warum aber gibt es auch keinen Bericht des im Westen erfolgreichen Autors Oskar Pastior über seine Jahre als "Otto Stein", mag dessen Tätigkeit auch geringfügig gewesen sein? Wohl aus demselben Grund, aus dem er erst sehr spät wieder auf seine Deportation zurückkam: Die Übersiedlung in den Westen im Jahre 1968 war für ihn das ultimative Entkommen. Das Zurückblicken vermied er, als zöge ihn andernfalls ein mythischer Bann wieder in das Erinnerte zurück. Erst 1999, 31 Jahre später, ist er, wenige Tage nach der Sonnenfinsternis, wieder nach Bukarest und auch nach Hermannstadt gereist und hat das Haus besucht, in dem er 1927 geboren wurde.

Für die von Renatus Deckert herausgegebene Anthologie "Das erste Buch" (2007), die erst nach seinem Tod erschien, hat Oskar Pastior einen 2004 verfassten Beitrag über seinen 1968 im rumänischen Staatsverlag nicht erschienenen Gedichtband "namenaufgeben" beigesteuert. Er ging in sein West-Debüt "Vom Sichersten ins Tausendste" ein. In diesem Beitrag erzählt Pastior die Geschichte seiner Übersiedlung in den Westen durch Nicht-Rückkehr von einem Studienaufenthalt in Wien: "Es war ein minimalistisches Handeln durch freiwilliges Nichthandeln - quasi im Vorgriff auf spätere lipogrammatische Verfahrensstrategien. Aber natürlich ein großer Schritt für meine Menschheit." Die Ausreise als Mondlandung: Wie vom Mond muss Pastior auf die Welt zurückgeblickt haben, der er entkommen war. Vielleicht hat er Otto Stein dabei aus den Augen verloren.

© SZ vom 18.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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