Roman von Pulitzer-Preisträger Johnson:Größer als das Leben

N. Korea marks 66th anniversary of children's union

Ehrenbezeugung für Kim-Jong Un: Kinder salutieren in Pjöngjang dem "Obersten Führer" Nordkoreas. 

(Foto: dpa)

Der Amerikaner Adam Johnson hat einen Roman über das unbekannteste Land der Welt geschrieben: Nordkorea. Sein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Buch "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" erzählt von einer Wirklichkeit, die streng nach einem grotesken Drehbuch funktioniert.

Von Ulrich Baron

Während manche Journalisten Google Earth, Kaffeesatzleserei und Divination bemühen, um Einblicke in das Nordkorea Kim Jong Uns zu gewinnen, wurde in den USA ein Roman mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, der nicht nur die Folterkeller und Vernichtungslager des Landes beleuchtet, sondern auch den pompösen Kitsch, mit dem sich der Vater des Nachwuchsdiktators, der "Geliebte Führer" Kim Jong Il, von 1948 bis 2011 umgeben hatte.

Freilich hatte der 1967 in South Dakota geborene Adam Johnson gute Startbedingungen für sein 2012 unter dem Titel "The Orphan Master's Son" erschienenes Werk. Als Johnson 2004 mit der Arbeit begann, konnte er auf Insider-Berichte wie etwa auf Kang Chol-Hwans "The Aquariums of Pyongyang" zurückgreifen und hatte als Mitglied der Reisedelegation einer NGO Gelegenheit erhalten, die Zustände im Land mit eigenen Augen zu erkunden.

Vor allem aber kam Johnson eine poetologische Eingebung zugute, die er eine Gestalt seines Romans äußern lässt: "Wo wir herkommen, sind Geschichten Realität. Wenn der Staat einen Bauern zum Musikvirtuosen erklärt, dann tun alle gut daran, ihn von da an Maestro zu nennen." Johnson hat sich von der politischen Propaganda die poetische Lizenz erteilen lassen, es ihr mit gleichen Mitteln und auf gleicher Ebene heimzuzahlen.

Sein Held ist zunächst ein unbeschriebenes Blatt. Pak Jun Do wächst im Waisenhaus "Frohe Zukunft" auf, und obwohl er wie alle andere Insassen den Namen eines Märtyrers trägt, hält er sich für den "Orphan Master's Son", den Sohn des sadistischen Aufsehers. Die schöne Frau auf dem Foto in dessen Zimmer kann nur die nach Pjöngjang verschleppte Mutter sein. So tröstet er sich damit, Eltern zu haben, und interpretiert alle Misshandlungen als getarnte Liebesbeweise eines verzweifelten Vaters. Schon als Kind absolviert er einen Kurs in der Dialektik des Selbstbetrugs.

Und Johnson hat noch viel mit ihm vor. Nach ein paar Seiten Kindheit und einem Absatz als Tunnelkämpfer wird Jun Do aufs Meer geschickt. Erst als Mitglied eines Marine-Stoßtrupps, der arglose Japaner von der Küste "pflückt", dann, nach einem Englischkurs auf ein Fischerboot, in dessen verborgener Funkbude er die Ränke der Amerikaner belauscht und auf politisch bedenkliche Gedanken kommt.

Ein Toter auf Urlaub

Als sich ein Besatzungsmitglied nach einer demütigenden Begegnung mit einem US-Kriegsschiff absetzt, muss eine Geschichte her, die als propagandistisch korrekte Wahrheit durchgehen könnte. Jun Do fällt die Hauptrolle zu. Zur Beglaubigung eines heroischen Kampfes mit den amerikanischen Provokateuren muss er sich von einem Hai beißen lassen, die kaum verheilte Wunde macht ihn reif für seine nächste Mission: die Zähigkeit des koreanischen Volkes in einer Delegation zu verkörpern, die auf die Ranch eines amerikanischen Senators fliegt.

Während der Roman dort einen Gipfel des Burlesken erreicht, geschehen am Rande bemerkenswerte Dinge. Jun Do wird von der CIA-Mitarbeiterin Wanda für den Minister für Gefängnisbergwerke gehalten, für Kommandant Ga, der mit der Schauspielerin Sun Moon, einer ehemaligen Favoritin des "Geliebten Führers" verheiratet ist. Und die mexikanische Haushalthilfe versteht seinen Namen als "John Doe". Das meint in den USA unidentifizierte männliche Leichen, könnte also andeuten, dass Jun Do ein Toter auf Urlaub sei. Wanda aber sagt: "Ein John Doe hat sehr wohl eine Identität. Sie muss nur noch festgestellt werden."

Das ist Thema des zweiten Teils. Nach der Rückkehr landet Jun Do in einem Arbeitslager, und der Erzähler verabschiedet ihn und sich selbst mit den Worten: "an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do".

Überraschende Metamorphose

Aber stimmt das auch? Im zweiten, "Das Geständnis des Kommandant Ga" betitelten Teil scheint Jun Do dem Lagers entkommen zu sein, indem er in die Rolle dessen geschlüpft ist, für den ihn die Amerikaner schon gehalten hatten. Die Ich-Erzählung eines Folterspezialisten, der Gas Geständnis aufschreibt, rekapituliert nicht nur die grauenhaften Erlebnisse Jun Dos im Lager, sondern auch seine überraschende Metamorphose.

Interview with Fiction Pulitzer winner Adam Johnson

Pulitzer-Preisträger Adam Johnson hat ein Buch über die menschliche Fähigkeit geschrieben, Grausamkeiten zu begehen und zu ertragen und Lügen als Wahrheit zu akzeptieren.

(Foto: dpa)

Je grotesker die Wirklichkeit als beliebig überschriebenes Drehbuch erscheint, desto tiefer dringt der Roman in die Abgründe eines Systems vor, das Sterbenden noch rasch ihr Blut abzapft und in dem das Einlöffeln vergifteter Pfirsichstücke der letzte Liebesdienst des Ich-Erzählers ist, den er seinen Eltern bieten kann, nachdem sie jahrelang, mit ihm, dem Folterknecht, hatten zusammenleben müssen.

Dem stehen Szenen patriotischer Filme gegenüber, und der "Geliebte Führer" empfängt die geliebte Sun Moon in der Kopie einer amerikanischen Flüsterkneipe, zieht hinter der Bar eine Gitarre hervor und erläutert ihr den Blues: "Das ist eine amerikanische Musikrichtung, die von den Qualen handelt, die durch politische Fehlentscheidungen verursacht werden."

Johnsons gesamter Roman ist eine groteske Annäherung an eine Wirklichkeit, deren schlimmste Qualen er nach eigenen Worten habe auslassen müssen. Dafür verweist er auf Shin Dong-hyuk und dessen Bericht "Escape From Camp 14", denn der Gegenstand seines Romans ist nicht die Opferbilanz, sondern die menschliche Fähigkeit, Grausamkeiten zu begehen und zu ertragen und Lügen als Wahrheit zu akzeptieren.

Doch es ist auch ein sehr amerikanischer Roman. Während Randfiguren verschwinden oder erlöschen, versuchen Johnsons Hauptfiguren Souveränität zu bewahren.

Einer muss in Nordkorea bleiben

Sein Held wird von einer Reihe fiktionaler Geschichten durchs Leben getragen, deren Erzählern man nicht sehr weit trauen sollte. Am Ende scheint er selbst dem großen Drehbuchschreiber eine schmerzhafte Niederlage zugefügt zu haben, indem er den Film "Casablanca" gegen dessen Propagandastreifen ausgespielt hat, die dieser seiner noch immer geblieben Sun Moon auf den Leib schreibt.

Einer muss in Nordkorea bleiben, damit die Geliebte in die Freiheit fliegen kann. Eine wunderbare Freundschaft aber gibt es nach diesem Wettstreit der Traumfabriken nicht. Der "Geliebte Führer" ist verstimmt. Was bleibt, ist die Gewissheit: "Wenn er will, dass du mehr verlierst, gibt es dir mehr zu verlieren", sagt die Schauspielerin Sun Moon zum Hochstapler Jun Do. Es klingt leider wahr.

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do. Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 687 Seiten, 22,95 Euro.

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