Weltkunstschau in Kassel:Erste Eindrücke von der Documenta

Am Samstag öffnet die Documenta 13 ihre Pforten für die Öffentlichkeit. Die Vorbereitungen verliefen unter größtmöglicher Geheimhaltung. Ein Rundgang vorab durch die mit Spannung erwartete Schau gewährt nun Einblicke in den Kunstmoment, der hundert Tage dauern soll.

Catrin Lorch, Kassel

Man tut gut daran, den Rundgang durch die 13. Ausgabe der Documenta in Kassel ganz klassisch zu beginnen - mit dem Besuch des Fridericianums. Denn obwohl mehr als 160 Arbeiten für diese Großausstellung produziert wurden, hat die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, die in ihrer Eröffnungs-Lecture zweimal den Begriff Choreographie verwandte, diese so arrangiert, dass sich Haupt- und Nebenwege zu Gedankenlinien fügen.

Documenta Zeilinger

Anton Zeilinger: "Quantum Now", 2012, Maße variabel, entwickelt an der Universität Wien durch Anton Zeilinger mit seinen Studenten Robert Fickler, Christoph Schäff und Bernhard Wittmann, Foto: Roman März.

(Foto: Roman März / Documenta)

Dass die Documenta durchaus theatralisch ist, den Dingen einen Auftritt verschafft, zeigt sich direkt im Fridericianum, wo sich der mit weißen Säulen bestandene Portikus erst einmal zum Nichts öffnet. Im Erdgeschoss ist nicht viel zu sehen: Die Eingangshalle ist leer, in blendender, weißer Unausgefülltheit erstreckt sich auch der lange Saal zur Linken. Rechts ist auf dem Plan immerhin ein Künstlername verzeichnet: Julio Gonzáles.

Der hat dort schon einmal ausgestellt, Ende der 1950er Jahre während der zweiten Documenta. Und es ist nicht unbedingt die Qualität dieser dunklen, halb abstrakten Bronzen, an die sich die Kunstgeschichte schon nicht mehr ganz genau erinnert, die ihm den Wiedereinzug an gleicher Stelle beschert - sein Auftritt ist ein Remake. Hat sich doch die Kuratorin in eine alte Installationsansicht verliebt. Diese zeigt, wie zwei Besucher im Jahr 1959 an dem langen Tisch vorbeiflanieren, auf dem Gonzáles damals seine Skulpturen aufgestellt hatte. An dem Bild erstaunt, dass die Dame barfuß ist, ein Kontrast nicht nur zu ihrem steifen Petticoat, sondern auch zum formellen Anzug ihres Begleiters. Tatsächlich stehen die Skulpturen jetzt wieder genau an der alten Stelle, allerdings geschützt von Glas. Was auf der alten Aufnahme nicht zu sehen ist, wurde auch nicht installiert - und so ist der Rest des Saales leer.

Und links? Das ist genau so eine Inszenierung, die viel über die Documenta 13 sagt - aber nicht viel zeigt. Im hintersten Teil der viele Meter langen Galerie steht eine kleine Vitrine mit ein paar Briefseiten. Er habe, trotz mannigfaltiger Verpflichtungen, ja gerne eingewilligt, an der Documenta teilzunehmen, teilt der Künstler Kai Althoff der Kuratorin darin mit, allerdings müsse er ihr schlussendlich doch absagen. Datiert ist das Schreiben auf den Mai diesen Jahres. Es bleibt allerdings offen, ob der Künstler, der, wie der Brief es zumindest nahelegt, die große Halle bespielen sollte, tatsächlich als von der Liste gestrichen gelten muss. Im hinteren Teil der Architektur, im Treppenhaus, das - seit dort die Butter-Honig-Pumpe von Joseph Beuys ratterte - als zentraler Ort des verästelten Ausstellungssystems zu gelten hat, wird doch eine kleine Malerei von ihm gezeigt.

Eva Brauns Puderdose

Hier herrscht Fülle, die Rotunde ist unter dem Titel "Das 'Brain'" ein Museum im Museum, vollgestopft mit dem, was Carolyn Christov-Bakargiev am Nachdenken hält. Viele tausend Jahre alte baktrische Figuren, die Malerei von Morandi nebst den originalen Vasen, die dem Italiener Motiv waren. Museumsobjekte, die im Libanon-Krieg zerschmolzen, paraguayanische Keramiken - und "eine Auswahl von Gegenständen aus dem Badezimmer von Hitlers Wohnung", die von der Fotografin und Kriegsberichterstatterin Lee Miller einst dort eingesammelt wurden. Ein Handtuch mit den Intitialen A.H., ein Parfumflakon und Eva Brauns Puderdose.

Es ist eine Documenta, deren stärkste Handschrift die der Kuratorin ist: Im Rückbezug auf große Vorgänger-Ausstellungen, etwa die ersten von Arnold Bode initiierten Ausgaben der Nachkriegszeit oder die legendäre fünfte, die von Harald Szeemann kuratiert wurde. Die Kunst wird so überzeugend in den hellen Sälen des Fridericianums eingerichtet, dass keine Fragen offen bleiben: Das Experiment, mit dem die Forschungen des Physikers Anton Zeilinger auf zwei nierenförmigen Labortischen vorgeführt werden, hinter denen eine Schultafel aufragt, schließt paßgenau an das Weltmodell an, das der amerikanische Künstler Mark Lombardi einst entworfen hat, um die Verflechtungen internationaler Konzerne darzustellen. Beide Schaubilder illustrieren Weltmodelle, sie scheinen direkt aufeinander zu antworten.

Intime Momente, nicht im Maßstab

Dass die Documenta neben Wissenschaftlern auch Schriftsteller eingeladen hat, ist eine Setzung, die viele künstlerische Entscheidungen zunächst verschattet. Zudem hat Christov-Bakargiev die Objekte zuweilen auch gegen alle Erwartungen ausgewählt. So zeigt sie den 1926 geborenen Gustav Metzger, der erst seit wenigen Jahren mit seiner Autodestruktiven Kunst wieder entdeckt wird, mit frühen Zeichnungen und Papierarbeiten - während die amerikanische Malerin Ida Applebroog in dem großen Saal, den man ihr im Fridericianum gegeben hat, keine Gemälde präsentiert, sondern stapelweise Auszüge aus ihren alten Tagebüchern auslegt. Zum Mitnehmen. Das sind jeweils intime Momente, die vor allem Nähe und Vertrautheit bezeugen und sich nicht unbedingt des Maßstabs einer Weltkunstausstellung bewusst zu sein scheinen.

Documenta Metzger

Gustav Metzger: "Steel Painting", 1958-59, Ölfarbe auf unbehandelter Leinwand. Zur Verfügung gestellt von Gustav Metzger. Foto: Anders Sune Berg.

(Foto: Anders Sune Berg / Documenta)

Stärker darf die Generation der gerade Arrvierten, der Dreißig- bis Vierzigjährigen, auftreten: Tino Sehgal läßt eine Performance tanzen und singen, die womöglich vor allem deshalb so intensiv wirkt, weil man im Grunde nichts zu sehen bekommt. Trisha Donelly zeigt in einem Kino einen abstrakten Film, der so zeitgenössisch und schön ist, dass man ihm folgt wie einem Feuerwerk. Der Kanadier Geoffrey Farmer hat aus alten Time-Magazinen die Bilder ausgeschnitten und auf Grashalmen wie Blumen zu einer langen Dekoration angeordnet, die viele Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einen staksigen, bunten Zeitstrahl verwandelt.

Kompost-Barren auf vergoldeten Tischen

Doch weil es in der zeitgenössischen Kunst nicht so einfach ist, Thema, Motiv und Medium zu trennen, ist nicht zu sagen, ob Christian Philip Müller, der handelsübliche Tütchen mit Mangold-Samen in einer Vitrine anordnet, nun wirklich eine konzeptuelle Arbeit im Ottoneum eingerichtet hat. Wo man fast pflückfertigen Mangold auf Booten (nicht Beeten) auf einem Wasserlauf in der Aue beim Wachsen zusehen kann, drängt sich die Installation als Metapher auf.

Und auch wenn die Arbeit von Claire Pentecost (gleichfalls im Erdgeschoß des naturwissenschaftlichen Museums) vor allem aus Kompost besteht, den sie in Form von Barren auf vergoldeten Tischen auslegt, so ist letztlich nicht zu entscheiden, ob Gartengrün hier Thema oder Metapher ist. Die an den Wänden hängenden Papierarbeiten jedenfalls zeigen stilisierte Ausrisse von Banknoten, was die Aussage der Skulpturen doch gewaltig in Richtung Metapher verschiebt. Ist das zeitgenössische Arte Povera, auch Konzept oder vor allem etwas kitschig?

Zerstreut, spielerisch, eigensinniger

Documenta Ohtake

Shinro Othake: "MON CHERI : A Self-Portrait as a Scrapped Shed", 2012, verschiedene Materialien, Holz, Elektronik, Ton, Dampf, Maße variabel. Foto: Nils Klinger.

(Foto: Nils Klinger / Documenta)

Zumindest gibt es viel Grün. Nicht nur, weil viele Dutzend Künstler in die Karlsauen gezogen sind, wo als Auftakt der Berg von Song Dong, aufgeschichtet aus Müll und mit Grasteppichen belegt, so ungefällig aus dem Boden ragt wie ein aufgeblähter Bonsai, ein Hügel, der doch nicht so massiv geworden ist, wie man hoffte.

Auch Künstler wie Manon de Boer oder Tarek Atoui installierten dort in Pavillons, die vor allem an Fertigbauten der Handwerkermärkte erinnern, ihre empfindliche Video- beziehungsweise Tontechnik. Gareth Moore zimmert dagegen seit Monaten an Architekturen aus Fundholz, die tatsächlich fragen, was Schutz und was Schmuck ist.

Unweit davon ist der Betriebshof des Kasseler Auenparks fast so etwas wie ein Hub: Im Gärtnerwohnhaus wie auch im Gewächshaus ist Kunst eingezogen (dort richteten sich Anna Maria Maiolino und Thea Djordjadze ein), während der Japaner Shinro Ohtake zur Eröffnung noch immer an seiner rumpelnden, musizierenden und Dampf ablassenden Hütte werkelt, die wie ein gestrandetes Boot unter einem Baum steht. In dessen Ästen stecken Kajaks, während kleine Jollen auf dem Rasen verteilt sind, als habe eine Flutwelle sie dort zurück gelassen. Wenn die kleine Wundermaschine tuckert, wirkt das fast so friedlich wie die Ruhe nach einem Sturm, auch weil man sich als Besucher in die Hängematten legen kann, die Apichatpong Weerasethakul zwischen die Bäume gehängt hat.

Schmetterlinge zum Bleiben bewegen

Während die Ausstellung im Zentrum - also im Fridericianum oder der Neuen Galerie - fast museal eingerichtet ist, still und unverrückbar, darf sie an der Peripherie - in den Karlsauen, in Kinos, Ladenlokalen oder dem alten Hauptbahnhof - zerstreut, spielerisch, eigensinniger auftreten.

Dass mitten in den Idyllen, in denen Christina Buch ein Beet anlegt, das Schmetterlinge zum Bleiben bewegen soll, auch ein von Sam Durant aus massiven Pfosten gezimmertes Schafott aufragt, das sich, in einer barocken Blickachse platziert, hervorragend als Aussichtsplattform eignet, wirkt wie ein Scharnier zu Arbeiten, die sich weniger idyllisch oder privatistisch geben.

So ist das Panorama, das an vielen Stellen in die weiche Hügellandschaft von Kassel gesetzt wird, die steile Bergkette um Kabul. Tacita Dean hat beispielsweise einen alten Tresorraum des Finanzministeriums mit den markanten Kuppen und Klüften ausgemalt. Weil sie mit Kreide auf schwarzem Tafelgrund malt und nur Schnee, Feuchtigkeit, Seen, Wasserfälle und Flussläufe abbildet, wirkt es fast so, als habe sich die Malerei von allein auf den Wänden angesammelt, wie Tau oder ein herannahendes Unwetter.

Kann man Krieg und Tourismus verbinden?

Afghanistan ist - neben der Vergangenheit Kassels im Dritten Reich - einer der historischen Hauptbezugspunkte der Documenta 13. Nicht nur, weil in Afghanistan in zwei Wochen eine zweite Documenta eröffnet wird (die Schau richtet zudem in Kairo und Banff Satelliten ein). Der Subtext dieses Projekts ist eine verschachtelte Angelegenheit - wobei einer der Hauptbezugspunkte die Tatsache ist, dass deutsche Soldaten in dem Land an einem Krieg beteiligt sind. Omer Fast hat beispielsweise den Film "Continuity" (2012) gedreht, der davon handelt, dass die Eltern eines Gefallenen einen Callboy als Ersatz engagieren.

Kann man Krieg und Tourismus verbinden? Das ist die zweite Komponente dieses Unterfangens: Das Hotel "One", das der italienische Konzeptkünstler Alighiero Boetti in den 1970er Jahren in Kabul eröffnete und in dem er nicht nur als Hotelier auftrat (was im vor Ort ein gewisses Auftreten sicherte), sondern auch als Gast logierte, wenn er sich zur Produktion seiner aufwendig gestickten Teppiche in Afghanistan aufhielt.

Mario Garcia Torres breitet seine Recherchen zu dieser kunsthistorischen Fußnote als Bilderschau und in Briefen so aus, dass die Betrachter fast eine ruinenromantische Sehnsucht zu dem unscheinbaren Flachbau im Zentrum der Stadt entwickeln. Und es ist Carolyn Christov-Bakargiev zu verdanken, dass zumindest der Künstler dort eine Zeitlang lebte - sie half ihm, das Gemäuer für ein Jahr anzumieten, während in Kabul außerdem in Zusammenarbeit mit dem "Center for Contemporary Art in Afghanistan" (CCMA) Vorträge, Lesungen und vor allem Workshops stattfanden.

Das hat nun Auswirkungen auf beide Städte: Kassel und Kabul. Ein Resultat wird das Gastspiel der Documenta 13 im Bagh-e Babur Queen's Palace sein. Umgekehrt wurden auch Künstler aus den Workshops nach Kassel eingeladen. Und zwar zu einer Ausstellung im Elisabeth-Hospital, einem der wenigen Gebäude, die Kassels Bombardierung im Zweiten Weltkrieg überstanden, einem Bruchsteinhaus aus dem 16. Jahrhundert, das allerdings auch deshalb eigenartig altertümlich wirkt, weil es zuletzt als chinesisches Lokal genutzt wurde, davor war es eine spanische und eine deutsche Gaststätte.

Hinein kommt man durch die Küche, die allerdings eher aussieht wie eine Toilette, weil Abel Qasem Foushanji die weißen Kacheln dicht mit Edding-Stiften zugekritzelt hat mit den Satzfetzen, Wörtern und Geräuschen, die der Soundkünstler in Kabul in seiner Umgebung einsammelt.

Gleich drei afghanische Studenten haben es auf die Teilnehmerliste der Documenta geschafft, auch der ganz klassisch im Miniaturmalerei-Stil geschulte Zainab Haidary. Zwanglos schließen afghanische Künstler an, die in der Diaspora leben. So ist die Ausstellung kein Länderkapitel in der Weltkunstausstellung, sondern eine pointierte Zusammenstellung von Arbeiten, die jeweils in einem sehr präzisen Verhältnis zu Tradition, Nation, Konvention stehen.

Wenn der aus Frankreich nach Afghanistan reisende Zalmai sich über etwas wundert, ist es die ungerührte Selbstverständlichkeit, mit der man in seiner Heimat den Schrott, zu dem das Kriegsgerät mit der Zeit verfällt, im Alltag verwendet. Panzerketten stabilisieren Bruchsteinmauern, ein Flakgestell ist eine Behelfsbrücke.

Und Jeanno Gaussi, die im Alter von fünf Jahren an der Hand ihrer Tante nach Deutschland kam, lässt alte Schwarzweißaufnahmen aus dem Familienalbum in Kabul von einem Auftragsmaler als bunte Familienportraits in Öl ausführen - und interpretieren: Kann es sein, dass der Vater der kleinen Mädchen, die hier aufgereiht sind, ein strenger Mann war? Die formelle Kleidung der Kleinen könnte ein Hinweis sein. Doch hält der sensible Künstler das Kinderportrait von Gaussi in Latzhose auch für das Antlitz eines Jungen.

Von Form- und Stilfragen gelöst

Die Reiseroute nach Kabul ist ein Weg durch die Großschau, der exemplarisch ist für die feine Verwobenheit der Werke, ihre sprechende Auswahl und Positionierung. Die Geschichte der gegenseitigen Gastlichkeit, von politischen Verwerfungen und Umbrüchen, kennt viele Rapporte, Verweise und Kapitel. Sie ist verwoben wie die im Fridericianum präsentierte "Mappa", eine bunte, teppichgroße Weltkarte, die Alighiero Boetti im Jahr 1971 für Harald Szeemanns Documenta sticken ließ und die ungeklärterweise nie in die Ausstellung fand.

Nachdem die vorangegangene zwölfte Documenta an Thesen, Verweisen und Formulierungen wie den "migrierenden Formen" scheiterte, schlecht installiert war und archivstaubtrocken argumentierend als nicht besonders geglückt abgehakt wurde, ist diese vielfältige dreizehnte Ausgabe als Setzung konsistent, vielgestaltig und sprechend. Die Objekte, die hier ausgewählt wurden, erzählen von Menschen, Orten, Ritualen, Traditionen. Diese Documenta hat sich von Form- und Stilfragen gelöst, sie läßt sich nicht aufdröseln in Motive und Medien - es ist eine Expedition namens Kunst, die in Kassel kurz zum Stillstand gekommen scheint, und sich für den Moment, der hundert Tage dauert, ideal eingerichtet hat.

Nach diesen ersten Eindrücken von der Documenta finden Sie ausführlichere Berichterstattung in der Freitagsausgabe der Süddeutschen Zeitung sowie in den kommenden Tagen auf Süddeutsche.de.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: