Generation Porno:Endstation Seh-Sucht

Stephanie zu Guttenbergs Angriff auf die Pop-Diva Lady Gaga gibt der alten Debatte über Jugend und Übersexualisierung neue Nahrung. Aber existiert sie überhaupt, die "Generation Porno"?

Christopher Schmidt

Es muss einem ja nicht gleich das Tablett mit den Schokomuffins aus der Hand fallen, wenn man gerade noch das Wort Youporn aufschnappt, bevor beim Kindergeburtstag die Neunjährigen schlagartig verstummen. Aber welche Seiten das eigene Kind im Internet geklickt hat, schaut man sich schon ganz genau an, wenn die letzte Kerze ausgepustet ist.

Generation Porno: Lady Gaga - die Stilikone für die Generation Porno?

Lady Gaga - die Stilikone für die Generation Porno?

(Foto: AP)

Und dann steht man mit seiner Viertklässlerin in einer H&M-Kabine und führt tränenreiche Diskussionen darüber, ob der Minirock genau richtig sitzt, wenn man ihn mit dem Schuhlöffel anziehen muss. Ist das bauchfreie Top mit den Spaghetti-Trägern wirklich die ideale Winterausrüstung? Und sind Netzstrümpfe zu geschnürten Schaftstiefeln das perfekte Outfit für Opas 70. Geburtstag? Auf dem Siedepunkt der Emotionen fragt einen die eigene Tochter, ob man etwa nicht wüsste, wer Lady Gaga ist. Das sei nämlich ihre Stilikone.

Nach solchen Szenen findet man die Befürchtung, "dass wir die Macht der Bilder über das Gefühlsleben vieler Kinder und Jugendlichen unterschätzen" und "gelegentliche Sorgen um das Frauenbild, mit dem diese Kinder aufwachsen" keineswegs alarmistisch.

Diese Sätze sind nachzulesen in dem Buch "Schaut nicht weg!", einem Ratgeber, wie Eltern ihre Kinder vor sexueller Gewalt schützen können. Geschrieben hat es Stephanie zu Guttenberg, die Frau des Bundesverteidigungsministers, Mutter zweier Töchter und Präsidentin der deutschen Sektion von Innocence in Danger, einem Verein, der sich für den Kinderschutz einsetzt.

Dass das Buch einiges Aufsehen erregt, liegt aber nicht an den Ausführungen Stephanie zu Guttenbergs zu ihrem eigentlichen Thema - diese sind durchweg verdienstvoll und dürften breite Zustimmung finden. Stein des Anstoßes ist vielmehr das kulturkritische Kapitel über die sexualisierte Gesellschaft, auf die Guttenberg auf den hinteren Seiten eingeht.

"Pornographie verdirbt unsere Kinder. Minister-Gattin schlägt Alarm", titelte die Bild-Zeitung und illustrierte ihren Vorabdruck aus dem Buch mit Bildern der Pop-Diva Lady Gaga, die Stephanie zu Guttenberg neben Madonna, Britney Spears, Christina Aguilera, Heidi Klum und anderen üblichen Verdächtigen als Beispiel anführt für den verderblichen Einfluss lasziver Auftritte und sexualisierter Images auf "die Entwicklung eines positiven Körperbildes und einer ichbezogenen Sexualität". Die weiblichen Stars, die "einerseits den Mainstream verkörpern, andererseits aussehen wie Pornostars", dienten Kindern und Jugendlichen heute als role model. Dabei werde "die Grenze zum Ordinären" überschritten. Zweck sei die billige Provokation, und dazu "müssen immer neue Grenzüberschreitungen und immer krassere Tabubrüche her".

Die Pop-Kultur als Einfallstor der Pornographie, also verdinglichter Sexualität und überwunden geglaubter Geschlechteridentität? Diese These ist natürlich viel zu mechanisch. Schließlich scheint sie zu übersehen, dass eine Künstlerin wie Lady Gaga, die in ihren Auftritten sehr bewusst Rollenzuschreibungen thematisiert, spielerisch verflüssigt und damit außer Kraft setzt, gerade eine selbstbewusste und souveräne Weiblichkeit verkörpert und nicht deren Preisgabe.

Was bitte hat solch erotischer Mummenschanz - und sei er noch so gewagt - mit kommerziellem Sex und industriell hergestellter Lust oder gar mit Gruppenvergewaltigung zu tun? Arbeitet, wer ein zu enges Mieder trägt, bereits dem Patriarchat in die schmutzigen Hände? Sind Frauen, die Männer nicht schon durch ihr Äußeres von vornherein entmutigen, mit finsteren Mächten im Bunde und selber schuld, wenn sie Frauenschändern und Sexisten zur Beute fallen? Signalisieren die aufreizenden Posen der Pop-Ikonen sexuelle Verfügbarkeit und Promiskuität?

Der Topos des Urfeminismus

Es entsteht der Eindruck, dass Stephanie zu Guttenberg sich einen alten, aber nie bewährten Topos des Urfeminismus zu eigen macht, allerdings unter einem umgekehrten, wertkonservativen Vorzeichen. Aber vielleicht muss man das Argument einfach nur umdrehen. Denn so abwegig die Kausalkette, derzufolge die Pop-Kultur der Pornographie den Weg in den Mainstream ebnet, auch ist, so wenig muss man Lady Gaga und andere in Schutz nehmen. Dass sie mit ihren Tabuverstößen nicht bloß auf sich aufmerksam machen wollen, sondern subversiv sind, kann man getrost anzweifeln und als romantischen Mythos betrachten.

Das Standard-Argument der Verteidigung, das auf die Emanzipationskraft der Kunst pocht, ist stumpf geworden auf eine Weise, die an die Ambivalenz der Pop-Kultur selbst rührt.

Sicher: Dass Eltern wenig geholfen ist, wenn sie einem Grundschüler erklären sollen, Leder, Latex und viel nackte Haut seien im Kontext einer Bühnenshow oder eines Videoclips keinesfalls irgendwie affirmativ gemeint, sondern ein superironisch gebrochenes Spiel mit Referenzen, setzt das Buch noch nicht ins Recht. Aber ist nicht die Situation selbst in Wahrheit viel unklarer, sind die Grenzen nicht fließender, als es sich in den verfestigten Positionen der Debattenroutine widerspiegelt?

Wie groß die Verwirrung tatsächlich ist, zeigte sich schon vor einigen Jahren, als ausgerechnet die honorigen Berliner Filmfestspiele dem Land eine Porno-Debatte bescherten. Damals wurde - einen Tag nach der Auszeichnung des Films "Gegen die Wand" mit der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli - bekannt, dass sie in mehreren Hardcore-Pornos mitgewirkt hat. Diese Enthüllung schadete aber weder der Schauspielerin noch der Branche, im Gegenteil: Sie führte zu einer Win-win-Situation. Reihenweise outeten sich seinerzeit vor allem solche Filmkollegen, um die es still geworden war, als ehemalige Porno-Darsteller und schickten Solidaritätsadressen. Während der seriöse Film sich im Glanz der Sünde sonnte, legte die Produktionsfirma der Pornofilme eine Sonderedition der gesammelten Werke des Berlinale-Stars auf, sah sich also durch die künstlerische Auszeichnung des Films offenkundig mitgewürdigt.

Längst imitierte ja die Porno-Industrie die seriöse Kunst: Star-Kult und Glamour, Gala-Abende und prestigeträchtige Preisverleihungen. Den Schmuddel vergangener Tage hat sie weitgehend abgelegt und präsentiert sich als selbstbewusste Dienstleistungsbranche, die mit Begriffen wie "Smartness" und "Fun" für ihre Produkte wirbt. Von der Kunst übernommen hat die Pornographie aber auch den Anspruch auf Autonomie, den Autorenbegriff und eben die Pop-Ironie. Mindestens ebenso lang zapft die Kunst, die sich in ihrer Geschichte immer wieder gegen den Pornographie-Vorwurf zur Wehr setzen musste, die Hardcore-Ästhetik an.

Am weitesten ist die Pornographie, vor allem über das Medium Comic, in den französischen Mainstream eingesickert. Aber auch Filme wie "Baise-moi" oder "Romance XXX" mit dem Porno-Darsteller Rocco Siffredi versuchten sich an der Gratwanderung - sowie die Romane von Michel Houellebecq, Nelly Arcans Putain oder La vie sexuelle de Catherine M. von Catherine Millet. Hierzulande loteten zuletzt Charlotte Roches Feuchtgebiete und Helene Hegemanns Axolotl Roadkill die Grenzen aus. Vom Laufsteg ist der Porno-Chic sowieso nicht mehr wegzudenken, und in der Bildenden Kunst haben explizite Sex-Darstellungen schon museale Würde - siehe Jeff Koons oder Bruce Nauman.

Die Membran dieser Osmose ist die Pop-Kultur. Erst sie hat es der Pornographie ermöglicht, den Schafspelz der Ehehygiene ebenso abzustreifen wie ihren schlechten Leumund als Bückware für verschwitzte Junggesellen. Der Kunst verhalf sie umgekehrt zu einer ungeahnten Massentauglichkeit. Die Frage ist nur, ob sich diese Form von Rebellion endlos fortsetzen lässt, ohne zum bloßen Alibi zu werden. Zumal da, wo es sich um industrielle Massenware wie Tonträger handelt, wirkt die rebellische Pose oft genug nur wie ein Marketinginstrument, um die jugendliche Zielgruppe einzukreisen.

Und wer hält sich heute schon nicht mehr für jung? Als Gegenkultur muss man das Projekt Pop und seinen Versuch, die Verhältnisse zu kippen, indem man sich die herrschaftlichen Codes aneignet und sie umbesetzt, wohl genauso als gescheitert betrachten wie die sturznaive Idee einer progressiven Pornographie, die Geschlechterrollen neu definiert. So bliebe als einziges Argument für die sexuelle Entgrenzung in der Kunst die faktische Allgegenwart der Pornographie. Aber gibt es sie überhaupt, die "Generation Porno", die immer wieder herbeigeschrieben wird?

Porno ist positiv

Wissenschaftlich lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen Porno-Konsum und sexueller Verrohung nicht nachweisen. Ausschlaggebend sind vielmehr familiäres Umfeld und soziales Milieu. Aber Stephanie zu Guttenberg stößt ohnehin nicht ins selbe Horn wie der Berliner Pastor Bernd Siggelkow, der 2007 mit seinem Buch Deutschlands sexuelle Tragödie die Diskussion um eine angeblich beziehungsunfähige, verwahrloste Jugend und enthemmte Teenies ausgelöst hatte. Im selben Jahr berichtetet der Stern unter der Überschrift "Voll Porno" von einer heranwachsenden Generation, für die Analsex, Gangbangs und SM-Spiele zum medialen Alltag gehören, der per Handy und Internet jederzeit präsent ist.

Guttenberg argumentiert differenzierter und spricht von einer "verstärkenden" Wirkung. Im Grunde aber tut sie nichts anderes, als die Frage in den Raum zu stellen, wie wir eigentlich umgekehrt selbstverständlich davon ausgehen können, dass die permanente Konfrontation mit sexualisierten Bilderwelten und den darin vorgelebten Rollenmustern spurlos an Kindern und Jugendlichen vorübergeht.

Muss diese Generation es nicht als Doppelmoral empfinden, dass sie in Schule und Elternhaus zu einem liberalen und partnerschaftlichen Miteinander erzogen wird, dem die regressiven Rollenbilder, die medial vermittelt werden, völlig widersprechen - und das fängt schon bei der Barbie-Puppe an. Und "Porno" ist unter Jugendlichen ein positiv besetzter Begriff, er steht für alles, was stark, wahr und gut ist. Es könnte also sein, dass Stephanie zu Guttenberg (wie übrigens auch Thilo Sarrazin) aus den falschen Prämissen die richtigen Schlüsse zieht.

Alarmiert von dem Artikel im Stern hatte die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer schon einmal versucht, eine Debatte über die Pornographisierung der Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung der gefährdeten Jugend in Gang zu bringen. Freilich zog sie damals mit dem schartigen Schwert des Geschlechterkampfes zu Felde. Zwanzig Jahre nach der "PorNo"-Offensive wollte sie 2007 Wäschegeschäften, in denen es angeblich nur noch String-Tangas für fremdbestimmte Dummchen zu kaufen gibt, den Garaus machen und wedelte aufgeregt mit feministischen Ladenhütern: mit der ungebrochenen Gewaltherrschaft der Männer, die alle Frauen zu Huren machen wollen und mit der Lebenslüge des weiblichen Geschlechts.

Im Übrigen müssten schärfere Gesetze her - im Zuge einer Emma-Kampagne war Alice Schwarzer mit dem Versuch gescheitert, einen neuen Straftatbestand zu schaffen, demzufolge Pornos als Volksverhetzung eingestuft werden sollten.

Nicht nur im Vergleich mit solch ebenso hilflosem wie gefährlichem Aktionismus, der den Teufel mit dem Beelzebub austreiben will, ist der Appell von Stephanie zu Guttenberg harmlos. Gerade weil sie nicht nach dem starkem Staat und Restriktionen ruft und damit die Lösung zu delegieren sucht, weil sie einseitige Schuldzuweisungen ebenso vermeidet wie simple Antworten, lässt sich ihr Buch nicht einfach als konservative Übersprungshandlung abtun. Zur Klage über den Werteverfall besteht ohnehin kein Anlass. Auch die jüngste Shell-Jugendstudie hat wieder belegt, dass heutige Jugendliche von einem festen Job und einer festen Beziehung träumen. Familie und Arbeit rangieren ganz oben auf der Skala der persönlichen Lebensziele.

Es besteht also kein Grund, Porno-Alarm zu schlagen. Aber das heißt nicht, dass alles in Ordnung ist und man zur Tagesordnung übergehen kann. Stephanie zu Guttenberg hat mit ihrem Zwischenruf daran erinnert, dass Eltern wachsam sein sollten, eben weil die Lage so unübersichtlich ist. Kleiner Trost: Unsere Neunjährige hat Lady Gaga ganz von alleine abgeschworen: Die sei ihr einfach zu nackig, sagt sie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: