Sekten:Der Kampf um die Kinder von Eldorado

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Es geht um Polygamie, Missbrauch und Gehirnwäsche: In Texas streiten Behörden mit Mitgliedern einer Mormonen-Sekte um das Sorgerecht für 440 Minderjährige.

Reymer Klüver, Washington

Es waren Szenen wie aus einem Hollywood-Schinken über die guten alten Zeiten im Westen Amerikas. Junge Frauen in taubenblauen, grauen, türkisfarbenen Kleidern bis zu den Knöcheln, die langen Haare züchtig hochgesteckt, eilten jubilierend die Stufen des Gerichts herab.

Sieht aus wie eine griechische Tragödie, ist aber ein modernes Drama: Anhänger der Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter Day Saints verlassen das Gericht in San Angelo. (Foto: Foto: AP)

Sie hatten gewonnen. So jedenfalls sah es aus. Ort der Handlung: die staubige Provinzstadt San Angelo im Südwesten von Texas. Auch der Plot der Geschichte wirkt so, als sei er einem alten B-Film entnommen: Mütter kämpfen um ihre Kinder, die ihnen ein übermächtiger Staat nehmen will.

Doch Gut und Böse sind in dieser Sache keineswegs klar umrissen, und die Frage bleibt, wer eigentlich die Schurken sind. In jedem Fall aber ist es schon jetzt die größte juristische Auseinandersetzung um das Sorgerecht für Kinder, die es je in den USA gegeben hat. Ende vergangener Woche hatte ein Berufungsgericht in Austin entschieden, dass die 38 klagenden Frauen ihre Kinder zurückerhalten sollen.

Die hatten ihnen die Kinderschutzbehörden des Bundesstaates Texas vor fast zwei Monaten nach einer großangelegten Razzia genommen. Es geht um 440 Kinder und Jugendliche. Alle lebten auf einer Ranch der sogenannten Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter Day Saints, einer Abspaltung der Mormonen, die noch immer die Vielehe propagiert.

Sexueller Missbrauch Minderjähriger

Der Vorwurf der Behörden: Minderjährige Frauen werden dort systematisch sexuell missbraucht, vergewaltigt und gegen ihren Willen in Ehen gezwungen. Doch das Gericht sah das nicht als erwiesen an und ordnete die Rückgabe der Kinder an.

Das Drama ist damit längst nicht vorbei. So schnell wollen die Behörden in Texas nicht aufgeben. Sie legten Widerspruch ein gegen den Spruch der Berufungsrichter. Nun muss der Oberste Gerichtshof von Texas in der Sache entscheiden. Solange bleiben die Kinder in Waisenhäusern oder in der Obhut von Pflegefamilien, verstreut über ganz Texas. Zwölf Kinder wurden inzwischen ihren Müttern zurückgegeben.

Tatsächlich hatten die staatlichen Kinderschützer von 31 Mädchen, die sie als minderjährige Mütter in ihre Obhut genommen hatten, 15 schon vorher wieder entlassen müssen: Sie waren volljährig. Eine der jungen Frauen war sogar 27 Jahre alt. Bei fünf Mädchen aber im Alter von 15 und 16 Jahren wurden Schwangerschaften festgestellt. Doch das war dem Gericht nicht genug an Beweisen.

"Belege, dass Kinder in dieser Umgebung irgendwann einmal in ihrer physischen Gesundheit oder Sicherheit bedroht sein könnten", heißt es in trockener Juristensprache im Urteil des Berufungsgerichts, "sind kein Beweis dafür, dass die Gefahr jetzt so groß ist, dass die extreme Maßnahme ihrer sofortigen Entfernung gerechtfertigt ist."

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Anonyme Anrufe bei Nothotline

Begonnen hatte alles am 3. April. Damals hatten die Behörden das Gelände der Yearning-for-Zion-Ranch (übersetzt etwa: Sehnsucht-nach-Zion-Ranch) in Eldorado im abgelegenen Südwesten von Texas gestürmt. Die Fundamentalist Church of Latter Day Saints hatte dort, inmitten trockenen Buschlands, vor fünf Jahren ein fast 700 Hektar großes Gelände erworben und Wohngebäude sowie eine Kirche errichtet.

Auslöser für die Razzia war eine Serie anonymer Anrufe einer jungen Frau bei einer Beratungsstelle zum Schutz vor häuslicher Gewalt in der benachbarten Provinzstadt San Angelo. Sie hatte behauptet, als Teenager gegen ihrer Willen verheiratet und geschwängert worden zu sein.

Inzwischen räumen die Behörden ein, dass die Anrufe von einer Frau in Colorado getätigt worden sein könnten, die nichts mit der Ranch zu tun hat. Das ändere nichts an den Tatsachen, sagen die Kinderschützer trotzig. Sie hätten genug Hinweise auf sexuellen Missbrauch auf der Ranch gefunden.

Das Leben auf der Ranch sei für die Kinder allein wegen der kruden Glaubensvorstellungen der Sekte schädlich. Deshalb sollten sie nicht dort bleiben. In Fernsehauftritten leugneten Mütter, denen ihre Kinder weggenommen worden waren, dass es so etwas wie erzwungenen Sex, Vergewaltigung und Gehirnwäsche in der umstrittenen Glaubensgemeinschaft gebe.

Die Fundamentalist Church of Latter Saints ist eine Abspaltung der offiziellen Church of Jesus Christ of Latter Day Saints. Die Fundamentalisten hatten sich von der offiziellen Mormonenkirche abgespalten, nachdem diese die Vielehe verboten hatte. Der Sekte dürften um die 10.000 Mitglieder angehören. Die meisten leben im Westen der USA. Ihr Anführer Warren Jeffs ist im vergangenen November in Utah zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er hatte eine 14-Jährige gegen ihren Willen mit einem fünf Jahre älteren Cousin verheiratet und zum Sex gezwungen.

© SZ vom 28.5.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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