Tag der Arbeit:"Tarifverträge machen Beschäftigte zu freien Menschen in der Arbeitswelt"

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Auch in diesem Jahr hat der Deutsche Gewerkschaftsbund zu Kundgebungen wie hier in Berlin aufgerufen. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Zehntausende demonstrieren deutschlandweit für bessere Arbeitsbedingungen. Auf den Kundgebungen zeigt sich: Ein Thema eint die Gewerkschafter und es ist die Kritik an der Tarifflucht.

Wie jedes Jahr demonstrieren auch an diesem Maifeiertag wieder Zehntausende bei Kundgebungen zum Tag der Arbeit in mehreren deutschen Städten. Den Schwerpunkt der Veranstaltungen am Mittwoch bildet eine zentrale Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Hannover, zu der neben DGB-Chefin Yasmin Fahimi auch Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) erwartet werden. Weitere Veranstaltungen finden unter anderem in Dresden, Chemnitz, Hamburg und Berlin statt.

Auf der Hauptkundgebung des DGB in Hannover forderte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Yasmin Fahimi, bessere Bedingungen für Beschäftigte. Sie kritisierte die Tarifflucht von Arbeitgebern, die einen volkswirtschaftlichen Schaden von 130 Milliarden Euro jährlich anrichte. "Tarifverträge machen Beschäftigte zu freien Menschen in der Arbeitswelt." Mehr Lohn, faire Bezahlung und geregelte Arbeitszeiten seien das gute Recht der Beschäftigten, sagte sie und rief nach einem Bundestariftreuegesetz.

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte vorab Firmen für weniger Tarifbindung kritisiert. "Ich habe kein Verständnis dafür, dass immer mehr Unternehmen Tarifflucht begehen", sagte der Regierungschef. "Das ist in Zeiten von Fachkräftemangel und enormer Arbeitsverdichtung kurzsichtig und schadet uns allen."

Die Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, nannte Investitionen "das Gebot der Stunde". Gewerkschaften und ihre Mitglieder müssten sich immer häufiger gegen die Verlagerung von Arbeitsplätzen und Abbaupläne wehren. Die Investitions- und Strategielosigkeit der Unternehmen werde immer offensichtlicher. "Kurzsichtige Abbaupläne und mangelndes Vertrauen in den Industriestandort und seine Beschäftigten sind feige", sagte Benner in Erfurt. "Das schwächt nicht nur die Beschäftigten und die Wirtschaft, sondern ist auch gesamtgesellschaftlich ein fatales Signal." Ähnlich äußerte sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), der angesichts wachsender Sorge vor dem Verlust von Arbeitsplätzen im Industriebereich mehr Engagement verlangte und damit auf den Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen bei Thyssenkrupp anspielte.

Sozial- und Infrastrukturpolitik dürften nicht länger gegeneinander ausgespielt werden, verlangte der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Werneke. "Die Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse", sagte er - sie gehöre deswegen ausgesetzt.

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Auf der zentralen Kundgebung in Hannover sollen sich Polizeiangaben zufolge 2500 Menschen versammelt haben. Der DGB sprach sogar von 10 000 Menschen. In Hamburg sind zahlreiche Menschen gemeinsam mit dem DGB auf die Straße gegangen. Dem DGB zufolge folgten rund 7000 Menschen der Demo unter dem Motto "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit". Auch in Berlin sind tausende Menschen zu einer Kundgebung des DGB gekommen. Die Polizei schätzt die Teilnehmerzahl auf 7500. Zum Abschluss ist eine Kundgebung vor dem Roten Rathaus geplant.

In Berlin und Hamburg werden Demonstrationen linker und linksextremer Gruppen erwartet

Neben den traditionellen Kundgebungen zum 1. Mai rechnen die Einsatzkräfte in Hamburg und Berlin wieder mit zahlreichen Demonstrationen linker und linksextremer Gruppen. In Berlin ist für Mittwochabend eine "Revolutionäre 1. Mai Demonstration" angekündigt, die nach dem Willen der Veranstalter diesmal durch Neukölln ziehen soll. Nach Einschätzung der Polizei ist die Strecke mit Blick auf den Gaza-Krieg gezielt gewählt worden, um einen möglichst großen Zulauf von propalästinensischen Demonstranten zu erreichen.

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Während in Kreuzberg ein "ganz normaler Tag" gefeiert werden soll, bereitet sich die Polizei auf unruhige Szenen in Neukölln vor. Dort hoffen propalästinensische Aktivisten auf regen Zulauf.

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Die Berliner Polizei geht von einem aggressiven Auftreten der Protestierenden aus. Sie wird nach eigenen Angaben mit mehr als 5500 Polizisten aus Berlin, anderen Bundesländern und der Bundespolizei im ganzen Stadtgebiet im Einsatz sein. Bereitgehalten werden außerdem technische Einheiten mit Räumfahrzeugen, Wasserwerfer, ein Polizei-Hubschrauber und Lichtmasten zum Ausleuchten der Straßen vor allem in Kreuzberg und Neukölln.

In der Nacht zum Mittwoch wurden in Berlin 16 geparkte Transporter des Online-Versandhändlers Amazon durch Feuer oder Hitze an der Thyssenstraße im Bezirk Reinickendorf beschädigt. Menschen kamen nicht zu Schaden, wie ein Feuerwehrsprecher mitteilte. 28 Einsatzkräfte löschten demnach rund zwei Stunden lang die Flammen. Zur Entstehung des Brandes machte der polizeiliche Lagedienst keine Angaben. Zuerst hatte Bild über die Brände berichtet.

In Hamburg hat ein anarchistisches Bündnis aus dem Umfeld der linksautonomen Roten Flora zu einer Demonstration aufgerufen. Laut Polizei wollen rund 800 Teilnehmer am frühen Nachmittag vom Bahnhof Sternschanze zum Altonaer Balkon ziehen. Kurze Zeit später will das Bündnis "Wer hat, der gibt" mit 2500 Demonstranten vom Dammtor-Bahnhof zum Eppendorfer Baum laufen. Auch die Gruppe "Roter Aufbau Hamburg", die vom Verfassungsschutz beobachtet und als gewaltbereit eingestuft wird, hat eine Demonstration angekündigt. Hier werden nach Polizeiangaben 1500 Teilnehmer erwartet.

Scholz erteilt Anhebung des Rentenalters erneut eine klare Absage

Bei den Kundgebungen der Gewerkschaften am 1. Mai werden traditionell bessere Arbeitsbedingungen gefordert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) warnte aus diesem Anlass vor Sozialkürzungen. "Der 1. Mai ist der Tag der Solidarität - wir lassen uns nicht auseinandertreiben", sagte der SPD-Politiker dem Berliner Tagesspiegel. "Gerade zum Tag der Arbeit kann man nicht genug betonen: Ich lasse es nicht zu, dass Arbeitnehmerrechte rasiert und der Sozialstaat geschleift werden!"

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich in einer Videobotschaft zum Tag der Arbeit. Scholz lehnte eine Anhebung des Renteneintrittsalters erneut klar ab. "Für mich ist es eine Frage des Anstands, denen, die schon lange gearbeitet haben, nicht den verdienten Ruhestand streitig zu machen. Und auch die Jüngeren, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, haben das Recht zu wissen, wie lange sie arbeiten müssen."

Scholz betonte, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland noch nie so viele Stunden gearbeitet hätten wie im vorigen Jahr. "Deshalb ärgert es mich, wenn manche abschätzig vom 'Freizeitpark Deutschland' reden." Mit über 46 Millionen Frauen und Männern gebe es mehr Erwerbstätige in Deutschland als je zuvor. In den kommenden Jahren würden aber noch mehr Arbeitskräfte gebraucht, sagte der Kanzler. "Deshalb sorgen wir auch dafür, dass diejenigen schneller in Arbeit kommen, die vor Russlands Krieg in der Ukraine zu uns geflohen sind." Denn Arbeit sei mehr als Geldverdienen. "Arbeit heißt auch: Dazugehören, Kolleginnen und Kollegen haben, Anerkennung und Wertschätzung erfahren."

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Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger schien von der von Kanzler Scholz benannten hohen Erwerbsquote unbeeindruckt und rief zu noch mehr Arbeit auf: "Wir brauchen mehr und nicht weniger Arbeit in Deutschland", erklärte Dulger am Mittwochmorgen. "Deutschland diskutiert zu viel über die Bedingungen von Nicht-Arbeit - und zu wenig über den Wert von Arbeit", beklagte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). "Wir werden alle mehr und länger arbeiten müssen", machte Dulger deutlich.

Die DGB-Vorsitzende Fahimi sah dies anders und betonte, dass in Deutschland jährlich zwischen 1,3 und 2 Milliarden Überstunden geleistet würden, weit mehr als die Hälfte davon unbezahlt. Angesichts dessen sei es "respektlos", wenn einige darüber fabulierten, man müsse den Menschen "Lust auf Arbeit" machen.

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