EU:Mit Schwung gegen die Mutlosigkeit

EU: "Die europäische Kooperation hat Leben gerettet": Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert mehr Optimismus und Stolz auf die EU.

"Die europäische Kooperation hat Leben gerettet": Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert mehr Optimismus und Stolz auf die EU.

(Foto: Jean-Francois Badias/AFP)

Eine neue Zukunftskonferenz soll der EU zu einem bürgernahen Profil verhelfen. Kann das gelingen? Oder scheitert die Idee am Machtstreben der Regierungen?

Von Matthias Kolb, Brüssel

Dass die Europäische Union mit dem groß angelegten Bürgerbeteiligungsprojekt "Konferenz zur Zukunft Europas" nach fast zwanzig Jahren und vielen Krisen wieder eine offizielle Debatte über ihre Ziele und Strukturen führt, ist die Folge eines erbitterten Machtkampfs. Die gestiegene Beteiligung an der Europawahl 2019 wurde vor allem im EU-Parlament als Beleg gesehen, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Mitsprache fordern und einen der Spitzenkandidaten als Präsident der EU-Kommission sehen wollten. Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, sah dies aber als lästige Einmischung. Dort hielt man weder Manfred Weber (CSU) noch den Sozialdemokraten Frans Timmermans oder die Liberale Margrethe Vestager für geeignet, Jean-Claude Juncker nachzufolgen.

Das Ergebnis ist bekannt: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schlug Ursula von der Leyen als erste Chefin der EU-Kommission vor. Die Deutsche hatte nur wenig Zeit, eine Mehrheit im entsetzten Europaparlament zu finden, und so warb sie für eine "Konferenz zur Zukunft Europas". Sie wünsche sich, "dass wir gemeinsam daran arbeiten, das Spitzenkandidaten-System zu verbessern" und "länderübergreifende Listen bei den Europawahlen (...) thematisieren", sagte von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede im Juli 2019 im Europaparlament in Straßburg. Demokratie brauche immer wieder "neuen Schwung" und Diskussionen über die richtigen Prioritäten wie Klimaschutz oder Digitalisierung.

Wenn die EU nicht zum globalen Spielball werden will, braucht es Reformen

Dass es fast zwei Jahre dauerte, bis die "Konferenz zur Zukunft Europas" in Straßburg feierlich eröffnet wurde, liegt nicht nur am Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Europaparlament. Vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie sollte das Projekt am 9. Mai 2020 in Kroatien starten. Die Verschiebung um ein Jahr hat nicht nur Nachteile: Die Pandemie hat Schwächen der EU sichtbar gemacht. Ohne Kompetenzen in der Gesundheitspolitik war eine koordinierte Antwort noch schwerer. Die Welt ist rauer geworden - und wenn die auf Kompromissen basierende EU nicht zum Spielball in den globalen Machtkämpfen werden will, braucht es Reformen. So denken nicht nur immer mehr in Brüssel, Corona hat auch viele Europäerinnen und Europäer ins Grübeln gebracht.

Deren Ideen sollen die "Konferenz zur Zukunft Europas" prägen, was viele Regierungen mit Sorge sehen. Denn Kontrolle oder auch nur eine gewisse Steuerung ist unmöglich, wenn Zehntausende online und in unzähligen Events diskutieren. Soll die EU mehr gegen soziale Ungleichheit tun? Braucht es eine EU-Außenministerin oder zumindest eine klare Abgrenzung von Kompetenzen der Akteure? Denn es sind nicht nur Eitelkeiten, die zu Episoden wie "Sofagate" führen. Dass von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht geschlossen auftreten konnten, schadet dem Ansehen der EU.

Gerade in Nord- und Osteuropa hält man das Projekt für eine lästige Pflichtübung. Deutschland ist dafür, doch laut EU-Diplomaten sind nur noch Italien, Österreich und Spanien überzeugte Unterstützer. Dass der Rest "skeptisch bis offen feindselig" sei, hat verschiedene Gründe: Manche sehen darin ein Egoprojekt von Emmanuel Macron für den Wahlkampf. Dass die Zukunftskonferenz ihren Zwischenbericht im Frühjahr 2022 vorlegen wird, wenn die Franzosen über Macrons zweite Amtszeit entscheiden, ist kein Zufall.

Andere wollen sich lieber auf die Folgen der Pandemie konzentrieren, als drei Jahre vor der Europawahl über Spitzenkandidaten zu reden. Außerhalb Deutschlands stößt das Thema auf wenig Gegenliebe: In kleinen Ländern rechnet man nicht damit, dass jemand aus ihrem Kreis zum Spitzenkandidaten gekürt werde. Dort erkennt man auch kein Defizit, wenn beim EU-Gipfel die demokratisch legitimierte Regierungschefs Personalentscheidungen treffen. Und nicht nur die Politiker jener Länder, in denen dafür ein Referendum nötig ist, wollen eine Debatte über die Änderung der EU-Verträge vermeiden. Dass der Verfassungskonvent, den Valéry Giscard d'Estaing leitete, 2005 in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte, wird als warnendes Beispiel angeführt.

Der Festakt in Straßburg wäre fast geplatzt

Diese Mutlosigkeit ärgert das Europaparlament. "Die Regierungen stecken in der Gegenwart fest, während wir über die Zukunft reden müssen, um Europa voranzubringen", sagt Manfred Weber, der für die Christdemokraten im neunköpfigen Exekutivausschuss sitzt. Je drei Vertreter entsenden auch die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten - und diese bestanden bis Freitag darauf, dass über den Zwischenbericht samt der Reformvorschläge nur im Exekutivausschuss und damit hinter verschlossenen Türen entschieden werden sollte. Diese Provokation ließ sich das Europaparlament nicht gefallen und drohte, den Festakt in Straßburg platzen zu lassen.

Der Kompromiss sieht vor, dass im Plenum der Konferenz 108 EU-Abgeordnete, je zwei Vertreter pro Mitgliedstaat sowie 108 Abgeordnete aus nationalen Parlamenten sitzen werden. 108 Europäerinnen und Europäer sollen die Ideen aus den Bürgerkonferenzen einbringen. Indem das Plenum an der Erstellung des Zwischenberichts beteiligt ist, hofft das Europaparlament, dass durch die in den Beratungen entstehende Dynamik der Druck auf die Mitgliedstaaten steigt.

Dass verbissen um Reformen gerungen werden wird, gilt als sicher. Allerdings ließ die Eröffnung erahnen, dass Macron ein guter Verbündeter für das EU-Parlament sein dürfte: Frankreichs Präsident ignorierte die Begrenzung seiner Redezeit auf zehn Minuten und forderte neben einer größeren Unabhängigkeit der EU-Staaten mehr Optimismus und Stolz. Der erste Corona-Impfstoff sei in Europa erfunden worden, und eigentlich habe sich die EU in der Pandemie bewährt: "Darauf müssen wir stolz sein, das war nicht selbstverständlich. Die europäische Kooperation hat Leben gerettet."

David Sassoli, der Präsident des Europaparlaments, verlangte für seine Institution, worüber alle Volksvertretungen verfügten: nämlich das Recht, eigenständig Gesetze vorschlagen zu können. An die Mitgliedstaaten richtete er eine weitere Forderung: "Die Frage der Einstimmigkeit im Rat muss unbedingt angegangen werden." Dies würde es geopolitischen Akteuren erschweren, die EU zu spalten und oftmals zur Untätigkeit zu verdammen.

Das Virus und die Wirtschaft: Wie reagiert die EU im zweiten Jahr der Pandemie? Darüber diskutiert an diesem Dienstag, 11. Mai, von 19 Uhr an die stellvertretende Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, Alexandra Föderl-Schmid, bei einer Online-Veranstaltung im Rahmen der Reihe "SZ im Dialog" mit EU-Kommissar Johannes Hahn, mit Clemens Fuest, dem Präsidenten des Ifo-Instituts, und mit Karoline Meta Beisel, Vize-Chefin im SZ-Politikressort. Via Livestream können Sie das Gespräch mitverfolgen und sich in die Diskussion einbringen. Weitere Infos und Anmeldung unter www.sz-erleben.de/veranstaltungen.

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