Hungersnot:Jemens Kriegsparteien nutzen den Hunger als Waffe

Hungersnot: Ein jemenitischer Huthi-Kämpfer stapft durch Hilfsgüter in der Hauptstadt Sanaa.

Ein jemenitischer Huthi-Kämpfer stapft durch Hilfsgüter in der Hauptstadt Sanaa.

(Foto: Mohammed Huwais/AFP)
  • In Jemen tobt seit zwei Jahren ein Bürgerkrieg, der das ärmste arabische Land weiter ins Elend stürzt.
  • Zwei Drittel der Menschen sind von Hilfsgütern abhängig, selbst Grundnahrungsmittel müssen importiert werden.
  • Doch sowohl Rebellen als auch Regierungstruppen politisieren die Hilfslieferungen - und verweigern sie der Gegenseite.

Von Paul-Anton Krüger

Bei Neumond ist die Nacht pechschwarz am Roten Meer. Seit Monaten bangen die Bewohner von Hodeidah, dass in solch einer Nacht der Angriff kommt, im Schutz der Dunkelheit. Hodeidah ist die viertgrößte Stadt Jemens - und der mit Abstand wichtigste Hafen. Das verleiht dem Küstenort strategische Bedeutung in dem nun schon zwei Jahre währenden Krieg, der das ohnehin bitterarme Land noch weiter ins Elend stürzt. Er wird ausgefochten zwischen den schiitischen Huthi-Milizen und Truppen des früheren Präsidenten Ali Abdullah Saleh auf der einen und Einheiten der Regierung des amtierenden Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi und einer Militärkoalition auf der anderen Seite. Das große, sunnitische Nachbarland Saudi-Arabien führt diese Koalition an.

Sieben Millionen Menschen leben in einer akuten Notfallsituation

18 der 27 Millionen Jemeniten sind davon abhängig, dass regelmäßig Lebensmittel über Hodeidah ins Land kommen, zwei Drittel der Bevölkerung. Der Hafen ist ein Nadelöhr. Mehr als 90 Prozent der Grundnahrungsmittel muss das ärmste Land der arabischen Welt importieren, und wenn nicht sehr bald sehr viel mehr Lieferungen kommen, dann wird Jemen in die mit Abstand größte Hungersnot seit Jahrzehnten stürzen, wie die Vereinten Nationen in dieser Woche eindringlich warnten - eine von Menschen gemachte, kriegsbedingte, absehbare Katastrophe.

Schon jetzt sind die Zahlen besorgniserregend: 18,8 Millionen Menschen brauchen Hilfslieferungen. 17 Millionen leiden an Hunger, 20 Prozent mehr als Mitte 2016. Zehn Millionen sind laut dem Bericht von "ernsten Versorgungslücken" betroffen, was bedeutet: Sie werden nicht immer satt. Auf der fünfteiligen Skala, deren letzte Stufe eine Hungersnot ist, stufen die Hilfsorganisationen ihre Situation mit drei ein.

Sieben Millionen leben in einer akuten Notfallsituation, der Stufe vier. Sie leiden unter extremen Versorgungslücken, es herrscht Mangelernährung, an deren Folgen Menschen sterben. Zwei der größten Provinzen, Taizz und Hodeidah, in denen schwere Kämpfe toben, stehen mit ihren 5,3 Millionen Einwohnern an der Grenze zur akuten Hungersnot. Wenn die UN diese ausrufen, ist es für manche zu spät. Dann verhungern Menschen bereits. Die Schwelle ist erreicht, wenn pro Tag zwei von 10 000 Menschen sterben, weil sie nichts zu essen haben.

In den Dörfern rings um Hodeidah soll es nichts mehr zu essen geben

Westliche Diplomaten fürchten, dass die Situation schlagartig kippt, vor allem wenn die Truppen der internationalen Koalition versuchen sollten, den Hafen von Hodeidah einzunehmen. Die Lebensmittelvorräte in Jemen reichen nur für sechs bis zwölf Wochen - und sie schrumpfen, weil nicht genug Nachschub ins Land kommt. Wenn die Versorgung über Hodeidah zusammenbricht, löst das eine Kettenreaktion aus. Binnen Wochen hätten Millionen jetzt schon unterernährter Menschen nichts mehr zu essen - Tausende Tote wären die unmittelbare Folge. Denn eine derart große Zahl von Menschen lässt sich wegen der logistischen Probleme auch mit einer groß angelegten Hilfsaktion nicht rasch versorgen, selbst wenn die Helfer freien Zugang zum Land hätten.

Ein Gewährsmann berichtet der Süddeutschen Zeitung, dass es in den Dörfern in der Provinz Hodeidah schon jetzt nichts mehr zu essen gebe. Die Fischer können wegen der Kämpfe entlang der Küste nicht aufs Meer fahren, sofern ihre Boote nicht ohnehin zerstört sind. Landwirtschaft und Viehzucht sind landesweit um 40 Prozent eingebrochen. In der Hauptstadt Sanaa gibt es zwar alle Lebensmittel noch zu kaufen, sie sind aber so teuer, dass viele sie nicht mehr bezahlen können. Die Inflation ist extrem, die Zentralbank hat seit fünf Monaten so gut wie keine Gehälter mehr ausgezahlt, sie hat schlichtweg kein Geld. Russland hat jetzt eine erste Tranche neuer Rial-Scheine geliefert, davon ist aber fast nichts in den von den Huthis kontrollierten Gebieten im Norden und Westen angekommen.

Rebellen und Regierungstruppen politisieren die Hilfslieferungen

Viele Jemeniten haben durch den Krieg ihre Arbeit verloren, mehr als zwei Millionen sind innerhalb des Landes vor den Gefechten geflohen. Abgemagerte Menschen betteln in den Straßen Sanaas um Essen. "Sie hungern, obwohl es in den Geschäften noch alles gibt", sagt der Mann. Ein Sack Reis, der früher 9000 Rial kostete, umgerechnet etwas mehr als 30 Euro, kostet inzwischen 20 000 Rial, fast 75 Euro. Für einen Liter Benzin müssen die Menschen umgerechnet zwei Euro zahlen.

Der UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien sagt, dass die Konfliktparteien zwar freien Zugang für humanitäre Hilfe versprechen, aber alle Seiten "willentlich dauerhaften Zugang verhindern und die Hilfe politisieren". Die Koalition unter Führung Saudi-Arabiens blockiert die von den Huthis kontrollierten Gebiete zur See, zu Land und in der Luft. Trotz eines von den UN organisierten Inspektionsmechanismus, der Waffenlieferungen verhindern soll, lässt sie nicht genügend Schiffe in den Hafen von Hodeidah, der überdies durch saudische Luftangriffe schwer beschädigt ist.

Die Militärkoalition leitet Frachtschiffe um, die Huthi sollen Hilfsgüter verkaufen

Die Militärkoalition verhinderte auch, dass von den USA finanzierte neue Ladekräne geliefert werden konnten, mit denen die Kapazität des Hafens wieder steigen sollte; derzeit können dort nur relativ kleine Schiffe entladen werden, die Kräne an Deck haben. Die alten Ladebrücken und der Kontrollraum wurden bombardiert, die neuen wurden in den Emiraten eingelagert. Nach UN-Angaben sind kaum noch Reeder bereit, Hodeidah anzulaufen, auch weil die Huthis immer wieder im Seegebiet vor der Küste Schiffe der Militärkoalition attackieren. Zudem haben sie vor dem Hafen von Mokha, 160 Kilometer südlich, See-Minen gelegt, von denen offenbar einige inzwischen von der Strömung in den Norden abgetrieben wurden.

Auch leitet die Militärkoalition einfach Schiffe nach Aden um, Jemens zweitgrößter Stadt. Sie steht unter Kontrolle der Regierung. Der Hafen dort hat aber bei Weitem nicht die Kapazität, um das gesamte Land versorgen zu können. General Ahmed al-Asiri, Sprecher der Militärkoalition, sagte der Süddeutschen Zeitung vor wenigen Wochen, die Huthi-Milizen würden Hilfsgüter auf dem Schwarzmarkt verkaufen und nutzten sie, um ihre Kämpfer und Anhänger zu versorgen, Vorwürfe, die westliche Diplomaten für plausibel halten. Asiri fordert die UN auf, Personal nach Hodeidah zu entsenden und die Verteilung der Hilfsgüter zu überwachen. Händler aus Jemen berichten, dass ihnen die Huthis für kommerzielle Einfuhren, ohne die eine Versorgung des Landes nicht möglich ist, hohe Gebühren abpressen, de facto Lösegelder für Waren, die dort angelandet werden.

Eine politische Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht

Den UN und anderen humanitären Organisationen fehlt indes Geld, um ausreichend Hilfe leisten zu können, sie mussten die Lebensmittelrationen bereits auf 35 Prozent kürzen, um mehr Menschen helfen zu können. Allein bis August sind 460 Millionen Dollar erforderlich, um sieben Millionen Menschen zu helfen, die ohne Hilfslieferungen nicht überleben können. Für das gesamte Jahr sind 2,1 Milliarden Dollar nötig. Davon haben die UN bisher nur sechs Prozent erhalten. Eine politische Lösung des Konfliktes, die den Ursachen des Hungers abhelfen könnte, ist nicht in Sicht: Beide Seiten weigern sich, zu den von den UN vermittelten Verhandlungen zurückzukehren. Stattdessen haben Regierungstruppen eine Großoffensive an der Westküste begonnen, deren Ziel Hodeidah sein dürfte. Ende März ist wieder Neumond.

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