Terrorismus:Warum exakte Opferzahlen nach Anschlägen schwer zu ermitteln sind

A damaged ambulance is pictured after an airstrike on the rebel-held town of Atareb, in the countryside west of Aleppo

Ein beschädigter Krankenwagen nach einem Luftangriff auf Atareb, eine Stadt westlich von Aleppo.

(Foto: REUTERS)
  • Nach Terrorangriffen liefern Nachrichtenagenturen oft sehr schnell Berichte mit genauen Opferzahlen.
  • Die Quellen für diese Angaben sind meist lokale Nachrichten, die Vereinten Nationen oder unabhängige Organisationen.
  • Verlässliche Informationen sind jedoch schwierig zu bekommen: Die Zahlen können zu Propagandazwecken übertrieben oder schlicht Schätzungen sein.

Von Isabel Pfaff und Tobias Matern

Was der nigerianische Gouverneur Kashim Shettima kürzlich sagte, klang unvorstellbar: Nicht - wie bisher angenommen - 20 000 Menschen soll die Terrormiliz Boko Haram seit Beginn ihres Feldzugs im Jahr 2009 umgebracht haben, sondern fünf Mal so viele: 100 000. Der Regierungschef des Bundesstaates Borno muss es eigentlich wissen, schließlich leidet niemand unter dem Terror so stark wie die Bürger seiner Region.

Täglich sind die Nachrichten voll von Opferzahlen, Krankenhäuser in Kabul werden gestürmt, Zivilisten in Syrien bombardiert, Menschen in Nigeria Opfer von Boko Haram. Nachrichtenagenturen liefern dann schnell Berichte mit Totenzahlen, in der Regel mit dem akkuraten Hinweis, auf welche Quelle sie sich stützen ("sagte ein Regierungssprecher" oder "nach Angaben von Krankenhausmitarbeitern"). Man kann davon ausgehen, dass westliche Leser, Hörer und Zuschauer noch nie von so vielen gewaltsamen Konflikten weltweit gehört haben wie zurzeit. Satellitentechnik, Internet und Smartphones haben den globalen Informationsfluss in den vergangenen Jahrzehnten revolutioniert. Aber wie akkurat sind Opferzahlen?

Im Drohnenkrieg sind exakte Informationen schwer zu bekommen

Im Drohnenkrieg etwa, den die Amerikaner in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia führen, sind exakte Informationen schwer zu bekommen, die Regierungen mauern. Es gab bisher - Stand Donnerstag - im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes mindestens 2060 bestätigte Drohnengriffe. Das hat das britische "Büro für investigativen Journalismus" in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen. Aber was die Zahl der Toten betrifft, sind eindeutige Angaben schon deutlich schwieriger: Zwischen 6177 und 8877 Menschen liege der Zahl der Opfer, davon seien zwischen 736 und 1391 Zivilisten, betont die Medienorganisation.

Die Quellen für diese Angaben sind lokale Nachrichtenberichte, Zahlen der Vereinten Nationen und Reports von Nichtregierungsorganisationen. Bei Drohnenangriffen ist der Ansatz des Büros für investigativen Journalismus wegen der Unzugänglichkeit der Gebiete, in denen sie ausgeführt werden, wohl der Ehrlichste: eine Spanne zu nennen, in der sich die Zahl der Opfer nach Auswertung aller verfügbaren Quellen bewegt.

Aber in anderen Fällen suggerieren Opferzahlen meist eine Gewissheit, die sich bei genauerem Hinsehen nicht immer halten lässt. Wie also kommen Zahlen von Menschen, die in Kriegen oder bei Terroranschlägen sterben, zustande? Der US-Amerikaner Gary LaFree beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit Opferzahlen, genauer: mit Terroropfer-Zahlen. Er hat die "Global Terrorism Database" aufgebaut, eine der größten Datenbanken zum globalen Terrorismus.

"Es ist allgemein sehr schwierig, verlässliche Daten zu Gewalt und Gewaltopfern zu bekommen", räumt der Kriminologe zunächst einmal unumwunden ein. Beispiel Mordraten: Nur hoch industrialisierte, westliche Demokratien liefern wirklich verlässliche Daten dazu, sagt LaFree - seiner Erfahrung nach höchstens 50 Staaten von knapp 200. Würde man sich als Journalist oder Forscher also entschließen, nur mit absolut verlässlichen Zahlen zu arbeiten, ließe sich das lediglich in wenigen, gut entwickelten Regionen umsetzen.

Zahlen sind natürlich auch Propaganda-Instrumente

Für Forscher wie Gary LaFree ist das keine Option. Für seine Terrorismus-Datenbank nutzt er deshalb so viele offen zugängliche Quellen wie möglich, größtenteils Medienberichte. "Natürlich hat dieses Vorgehen Nachteile, Journalisten berichten manchmal falsch, und oft gibt es mehrere, sich widersprechende Quellen, auf die sie sich berufen." Trotzdem sei diese Form der Datenbank die einzig denkbare für die Untersuchung von Terrorismus, weil Terroristen vor allem in Gebieten operieren, in denen staatliche Behörden als Quellen ausfallen, etwa in Syrien, Libyen, Irak, Nigeria.

Zahlen sind natürlich auch Propaganda-Instrumente: Wann immer im afghanischen Helmand oder pakistanischen Peschawar ein Krankenhaus oder eine Polizeistation gestürmt werden, bemühen sich auch die Taliban oder der "Islamische Staat", Opferzahlen in der Öffentlichkeit zu lancieren - in der Regel sind dies maßlos übertriebene Angaben, die aber auch immer wieder ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.

So lange Journalisten aus Terrorgebieten Zahlen zusammentragen, nutzt LaFree die Berichte für die Datenbank. "Wir sortieren natürlich Quellen aus, die uns offensichtlich befangen oder einseitig erscheinen", sagt er. Dafür gebe es aber keine feste Regel. Man entscheide von Fall zu Fall. Die Datenbank zeigt, dass auch den profiliertesten Forschern nichts anderes übrig bleibt, als mit begrenzt zuverlässigen Zahlen zu arbeiten. Journalisten sind in den meisten Fällen die einzigen Sammler dieser Zahlen.

Als der nigerianische Gouverneur Shettima über die Boko Haram-Opfer sprach, erwähnte er auch seine Quelle: Bürgermeister aus der Region hätten ihm die Zahlen genannt. Und Shettima erklärte auch, worauf diese Opferzahlen basierten: auf Schätzungen.

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