Sicherungsverwahrung:Ewiges Koma

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kocht die Debatte über die Sicherungsverwahrung hoch. Sie ist das schärfste Schwert des Staates - und geht zurück auf das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933.

Heribert Prantl

Steven Spielberg weiß, wie es geht. Er hat einen Film darüber gedreht, wie man Verbrechen am wirksamsten verhindert - indem man die Gedanken der Menschen überwacht und zugreift, bevor es zum Verbrechen kommen kann. Sein Film heißt Minority Report. Das Sicherheitssystem, das dort die Gedanken überwacht, heißt Precrime. Es verfügt über genetisch behandelte Wesen, die an Rechner angeschlossen sind. Diese Wesen werden Precogs genannt, (von precognition, Vorauswissen), weil ihnen ihre hellseherischen Gaben erlauben, Gewalttaten vorauszusehen. Sehen sie einen künftigen Täter, wird sein Name in eine Kugel eingraviert und den Ermittlern vor die Füße gerollt. Die Precogs kennen also den Film der Zeit und spulen ihn vor. Die Sicherheitstruppe weiß dann, wann der Vergewaltiger seine Wohnung verlässt - und noch ehe die Tat geschieht, greift sie zu und schaltet den künftigen Täter aus. Die "Gefahrperson" wird ins ewige Koma befördert.

Sicherungsverwahrung: Über die "Haft nach der Haft" wird derzeit heftig gestritten.

Über die "Haft nach der Haft" wird derzeit heftig gestritten.

(Foto: AP)

Die Precogs des Rechtsstaats heißen Gutachter. Die Gerichtsgutachter versuchen, bei Straftätern zu prognostizieren, ob und wie gefährlich diese in Zukunft sind. Ist der Straftäter zu gefährlich, um nach der Verbüßung seiner Strafe in Freiheit entlassen zu werden? Muss man ihn zur Verhütung künftiger schwerer Straftaten nach Ablauf der Strafhaft noch weiter einsperren? Das Mittel zu diesem Zweck heißt Sicherungsverwahrung; sie kann bis zum Tod dauern.

Fünfhundert Menschen sitzen in Deutschland in Sicherungsverwahrung. Gegen etwa siebzig wurde die Sicherungsverwahrung erst nachträglich verhängt oder ad infinitum verlängert; nachträglich heißt: erst nach dem rechtskräftigen Strafurteil, also während der Strafhaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat das beanstandet; ein weiteres Urteil gegen das deutsche System nachträglicher Sicherungsverwahrung wird in Kürze erwartet. Die Frage lautet daher: Wie weit darf repressive Prävention gehen?

Einsperren zur Vorbeugung: Bisher gibt es im deutschen Recht dafür drei Möglichkeiten. Erstens: Die Gefahrperson wird in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Die Freiheitsentziehungsgesetze der Länder sehen unter strengen Voraussetzungen vor, dass psychisch kranke Menschen so lange in der Psychiatrie eingeschlossen werden, bis von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Zweitens: Die Gefahrperson kommt in polizeilichen Unterbindungsgewahrsam. Der Standardfall sieht so aus: Ein Betrunkener hat Kneipe oder Wohnung kurz und klein geschlagen, die Polizei wird gerufen und nimmt den Mann mit aufs Revier. Je nach Bundesland kann dieser Gewahrsam, bei gewalttätigen Demonstranten oder Hooligans, bis zu vierzehn Tagen dauern. Drittens: Die Sicherungsverwahrung; sie ist die schwerwiegendste Möglichkeit, Gefahrpersonen lange Zeit, womöglich lebenslänglich, einzusperren. Darüber wird derzeit heftig gestritten.

Der Gesetzgeber hat die Anwendungsmöglichkeiten dieser Sicherungsverwahrung in jüngerer Zeit ständig erweitert; mittlerweile kann Sicherungsverwahrung auch gegen Ersttäter und sogar gegen Jugendliche verhängt werden. In der Vollzugspraxis wird dann meist nur das Schild umgedreht, das vor der Zelle hängt; es steht dann nicht mehr "Strafe", sondern "Sicherung" darauf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese fehlende Unterscheidbarkeit kritisiert. Die Rechtspolitiker der Union erwägen deshalb, für Sicherungsverwahrte eigene Häuser zu bauen, in denen eine "Sicherungsunterbringung" dann vollzogen werden soll. Die Regierung Merkel hat jedenfalls eine große Reform des wirren Sicherungsverwahrungsrechts in ihr Programm geschrieben. Die Vorstellungen der Koalitionäre gehen jedenfalls bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung weit auseinander; auch ansonsten gibt es Streit.

Sicherungsverwahrung ist juristisch heikel: Der zentrale Satz des Strafrechts "in dubio pro reo / im Zweifel für den Angeklagten" wird nämlich mit der Sicherungsverwahrung ins Gegenteil verkehrt - zumal dann, wenn sie nicht schon im Strafurteil, sondern erst später, aufgrund des Verhaltens in der Haft, verhängt wird. Sicherungsverwahrung bedeutet also in dubio contra: gegen den Häftling, aber für potentielle Opfer. Sicherungsverwahrung heißt also: Eine Person wird weggesperrt nicht zum Zweck der Bestrafung, sondern zur Vorbeugung. Jemand, der einmal Täter war, bleibt auch nach Verbüßung seiner Strafe hinter Gittern - solange er als öffentliches Risiko gilt. Das kann und darf nur in ganz besonderen Ausnahmefällen so sein.

"Keine Strafe ohne Schuld"

Viele Juristen werden bei der Sicherungsverwahrung von einer heftigen rechtsstaatlichen Unruhe befallen. Das liegt daran, dass dabei neben dem "in dubio pro reo" noch ein zweiter Kernsatz außer Acht gelassen wird, nämlich der Satz nulla poena sine culpa / keine Strafe ohne Schuld. Sicherungsverwahrung wird ja nicht für vergangene, sondern für eine mögliche künftige Schuld verhängt. Die herrschende juristische Meinung beschwichtigt diese rechtsstaatliche Unruhe damit, dass man Sicherungsverwahrung nicht als Strafe, sondern als "Maßregel der Sicherung und Besserung" bezeichnet; die Grundsätze des Strafens seien auf eine Maßregel nicht anwendbar.

Die Haft nach der Haft ist eine legislative Erfindung aus dem Jahr 1933. Sie wurde im "Gewohnheitsverbrechergesetz" eingeführt und sofort ausgiebigst angewendet - bis 1945 wurden etwa sechzehntausend Menschen zu Sicherungsverwahrung verurteilt, bis zu zweitausend im Jahr. Der Sicherungsverwahrungsparagraph galt dann bis 1969 unverändert in folgender sehr weiter Fassung: "Wird jemand als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert."

Diese vage Formulierung hat zu einem furchtbaren Missbrauch beigetragen. Bis weit in die sechziger Jahre hinein wurden als "Gewohnheitsverbrecher" weniger Sexualverbrecher oder Brandstifter, sondern vor allem kleine Seriendiebe und Betrüger weggesperrt. Die Sicherungsverwahrung, die die Gesellschaft, so der Gesetzeszweck "vor chronisch kriminellen Hangtätern schützen" sollte, "denen mit anderen strafrechtlichen Mitteln" nicht beizukommen ist, betraf also eher die lästigen, nicht aber die wirklich gefährlichen Kriminellen.

Nach einer Untersuchung des Jahres 1963 hatten die Sicherungsverwahrten überwiegend keine schwere Tat begangen, nur bei 1,8 Prozent waren es Verbrechen gegen Leib und Leben. Die Gesamtbeute bei den Dieben, die damals als "Gewohnheitsverbrecher" in Sicherungsverwahrung saßen, lag im Durchschnitt bei unter tausend Mark. So wurde mit der schärfsten Sanktion des Rechts Schindluder getrieben, so kam die Sicherungsverwahrung in Misskredit; sie stand daher in den siebziger Jahren kurz vor der völligen Abschaffung, Mitte der neunziger Jahre wurde sie dann in der deutschen Gesetzgebung wieder populär; seitdem steigen die Verurteilungen zu Sicherungsverwahrung kontinuierlich.

Verschiedentlich wurden jüngst schon Gesetzesvorstöße unternommen, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch noch dann anzuordnen, wenn ein Straftäter bereits entlassen ist, sich aber dann nicht zuträglich aufführt. Solche Überlegungen führen freilich schnurstracks zur Frage, warum man eigentlich noch warten soll, bis einer eine Straftat begeht; man könnte ihn ja schon vor seiner Straftat einsperren, wenn Gutachter glauben, dass er gefährlich ist. Damit wäre dann aus der Fiktion des Films Minority Report Realität geworden.

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