Terroranschlag in Moskau:Russlands fremde Völker

Der Terroranschlag in Moskau schürt den Hass gegen Minderheiten in Russland. Sehr schnell ist der Kaukasus bei der Suche nach den Hintermännern in den Fokus gerückt - dabei könnte die Region ein Vorbild sein.

Sonja Zekri

Natürlich gibt es nach dem Anschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo wieder eine "kaukasische Spur". Die gibt es fast immer, wenn in Russland eine Bombe in der Metro hochgeht, im Zug oder auf einem Markt, auch wenn sich diesmal die Augenzeugen nicht einig sind, ob das Selbstmordattentat von einer verschleierten Frau oder von einem Mann verübt wurde, der vor der Tat noch schrie: "Ich werde euch alle töten!"

Unter den Opfern sind Deutsche, Briten, Österreicher. Jeden Tag landen drei Dutzend Maschinen aus Deutschland in Moskau. Domodedowo ist von Berlin aus schneller zu erreichen als Teneriffa. Moskau ist eine europäische Großstadt, und plötzlich ist der Kaukasus ganz nah.

Nur liegen zwischen Russland und der Region zu Füßen des Elbrus heute Lichtjahre und ein Abgrund an Entfremdung. Selbst wenn sich die "kaukasische Spur" nicht bestätigt, so schürt schon der Verdacht einen Hass, der sich zuletzt vor den Mauern des Kreml und später in russischen Städten in regelrechten Schlachten zwischen Rechtsradikalen und Zuzüglern aus Zentralasien oder aus dem Kaukasus entlud. Seit Jahrhunderten wird der Kaukasus aus Sankt Petersburg oder aus Moskau blutig niedergeworfen und blutig verteidigt. Der Kaukasus, so heißt es im Kreml, sei das "Fundament" Russlands. Heute bezeichnen nicht einmal die größten Pessimisten die Region als "inneres Ausland" Russlands.

In muslimischen Republiken wie Tschetschenien, Inguschetien oder Dagestan sind die neuen Moscheen am Freitag übervoll. Ramsan Kadyrow, Moskaus Statthalter in Grosny, zwingt seinen Frauen das Kopftuch auf. Und wenn tschetschenische Männer aus dem Auto mit Farbpatronen auf Mädchen schießen, an deren Rocklänge sie etwas auszusetzen haben, gilt dies in Grosny nicht als Straftat, sondern als Dienst an Sitte und Moral. Nach der Erosion durch zwei Tschetschenien-Kriege und der Infiltrierung durch Dschihadisten aus dem Nahen Osten, aber auch durch lokale Gotteskrieger, konkurriert ein neuer radikaler Islam mit den alten Traditionen von Patriarchat und Familienehre. Gemeinsam ist beiden nur die Fortschrittsverweigerung, ja sogar eine Abkehr von der Moderne. Sie begrüßt die Polygamie und Scharia-Entscheidungen, da die Aussicht auf Gerechtigkeit angesichts eines rechtsstaatlichen Vakuums vor staatlichen Gerichten ohnehin verschwindend ist.

Fremde in der Heimat

Vor ziemlich genau einem Jahr hat Präsident Medwedjew nach vergeblichen Feldzügen und Jahren des Kampfes einen neuen sozialen Ansatz verkündet und sogar einen Sonderbeauftragten eingesetzt. Der Kaukasus, eine atemberaubende Bergkulisse, die Schriftsteller wie Alexandre Dumas und Michail Lermontow inspirierte, soll seine Schönheit in Wohlstand und Stabilität verwandeln, mit Skipisten und Hotels und Strömen an Touristen. Bis 2025 sollen 400.000 Arbeitsplätze geschaffen, die Arbeitslosigkeit gesenkt, eine der ärmsten Regionen Russlands in blühende Gärten verwandelt werden. Bislang aber ließen sich davon nicht einmal die Investoren kaukasischer Herkunft überzeugen, geschweige denn russische Oligarchen.

Der bewaffnete islamistische Untergrund nämlich, inzwischen zerstritten und fragmentiert, aber deshalb umso schwerer zu fassen, begreift die schönen Pläne des Kreml ohnehin nur als Versuch, sein künftiges kaukasisches Emirat vom Schwarzen zum Kaspischen Meer zu usurpieren. Inzwischen sterben bei Anschlägen und Kämpfen fast so viele Polizisten wie militante Islamisten, vor allem in Dagestan, aber auch im einst friedlichen Kabardino-Balkarien und sogar im christlichen Nord-Ossetien. So bleibt der Kaukasus - militärisch, sozial, fiskalisch - eine kostspielige Angelegenheit für Moskau. Es ist nur ein kleiner Trost, dass die fast vollständige Subventionierung der lokalen Haushalte und damit der korrupten Eliten zumindest allen nationalistischen Träumen den Wind aus den Segeln nimmt.

Die Menschen aus den verarmten Plattenbauten von Machatschkala oder den Elendsdörfern in Derbent werden weiter nach Moskau und Sankt Petersburg strömen - und man wird sie empfangen wie Fremde, ja, oft wird man sie bekämpfen. Und irgendwann werden sie sich wehren. Schon einmal hatte eine kaukasische Gruppe namens "Schwarze Falken" Schrecken verbreitet, als sie mit dem Ruf "Schlitzt die Russen auf!" in der Metro über zwei junge Männer hergefallen war und die Tat gefilmt hatte. Bis ins Detail kopierten die kaukasischen Schläger jene Skinheads, die in russischen Städten fast täglich Jagd auf Migranten machen.

Russland sind die eigenen Völker fremd geworden. Anders als zu Zeiten der zaristischen oder sowjetischen Imperien gilt ethnische Vielfalt nicht als Beweis von Größe, sondern als Bedrohung für eine allemal leicht zu erschütternde Identität. Dabei könnte der Kaukasus in gewisser Hinsicht durchaus ein Modell sein. In Dagestan etwa leben mehr als 40 Völker, und die Witze über nationale Eigenheiten füllen Abende. Es sind hinreißende Anekdoten über die kräftigen, aber tumben Avaren, die geschäftstüchtigen Darginer, die listigen Laken. Es sind Beweise von jahrhundertealter Toleranz und Selbstironie. In jüngster Zeit sind allerdings nicht viele hinzugekommen.

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