Ungarn: Paul Lendvai:"Klima der Intoleranz und des Hasses"

Bevor Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, erklärt der Publizist Paul Lendvai, wie Premier Orbán die "rechte Hegemonie" in den Medien fördert, wieso sich das Land in Richtung Weißrussland entwickelt und warum Kritiker bedroht werden.

Matthias Kolb

Paul Lendvai wurde in Budapest geboren und lebt seit 1957 in Wien. Zwischen 1960 und 1982 berichtete er als Korrespondent für die Financial Times, später leitete er das Europastudio des ORF. Von seinem Zweitwohnsitz in Budapest aus verfolgt der 81-Jährige, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, die Entwicklung in seiner Heimat sehr genau - und wird deswegen von konservativen Ungarn angefeindet.

Hungary's Prime Minister Orban announces measures to help the government meet its budget deficit targets in Budapest

Er spricht vom 1. Januar 2011 an für die Europäische Union: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Viele europäische Politiker sind darüber entsetzt.

(Foto: REUTERS)

sueddeutsche.de: Herr Lendvai, Ungarn übernimmt am 1. Januar 2011 die EU-Ratspräsidentschaft. Welche Impulse kann das Land der Gemeinschaft geben?

Lendvai: Ich weiß nicht, was das Land geben wird, denn wie die meisten mittel- und osteuropäischen Länder will Ungarn eher nehmen. Dennoch wird die Ratspräsidentschaft glänzend über die Bühne gehen: Die großen Konferenzen finden im neu renovierten Schloss Gödöllő, dem Lieblingsschloss von Kaiserin Sissi, statt. Außenminister Janos Martonyi ist ein Routinier und wird garantieren, dass die Formalitäten und das Protokoll eingehalten werden. Die Ungarn werden sich während dieser sechs Monate als brave EU-Schüler verhalten.

sueddeutsche.de: Als inhaltliches Ziel wird eine europäische Lösung der Roma-Frage angestrebt. Kann Ungarn hier ein guter Vermittler sein?

Lendvai: Das ist eine interessante, aber sehr schwierige Angelegenheit. Die Roma-Frage betrifft ganz Europa und natürlich auch Ungarn. In diesem Land leben offiziell 600.000, wahrscheinlich sogar 700.000 Sinti und Roma. Das ist eine Folge der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Nun kümmern sich endlich einige Politiker der konservativen Regierung um diese Frage.

sueddeutsche.de: Das Thema spielte im Vorfeld der Parlamentswahl im April eine wichtige Rolle.

Lendvai: Es gibt rechte und rechtsextreme Zeitungen, die nicht gerade konstruktiv über die Roma-Frage geschrieben haben und dies auch heute nicht tun. Aber Ungarn muss seine Hausaufgaben machen, denn schließlich wurden hier zwischen Januar 2008 und August 2009 sechs Roma ermordet. Die Täter werden nun hoffentlich vor Gericht gestellt.

sueddeutsche.de: Die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán hat vor acht Monaten eine Zweidrittelmehrheit im Parlament gewonnen und kann nun die Verfassung ändern. Hat die Partei das Land bereits umgebaut?

Lendvai: Dass Fidesz eine so große Mehrheit erhielt, hatte zwei Gründe: Es lag am ungarischen Wahlsystem sowie an der zerstrittenen Opposition. Bei der Kommunalwahl im Oktober hat die Partei ihre Hegemonie bewahren können. In den vergangenen Wochen hat Ministerpräsident Orbán eine große Offensive gestartet, um auf allen Gebieten die Machtstruktur der Fidesz auszubauen.

sueddeutsche.de: Was genau wurde beschlossen?

Lendvai: Die Abgeordneten der Regierungsfraktion haben die Kompetenzen des Verfassungsgerichts eingeschränkt, einen umstrittenen Politiker für neun Jahre zum obersten Staatsanwalt bestimmt und zugleich mit Pál Schmitt einen braven Fidesz-Mann zum Staatspräsidenten gewählt. Die Konservativen zeigen auch anderswo ihre Macht: Der berühmte Dirigent Adam Fischer wurde an der Staatsoper aus dem Amt des Generalmusikdirektors gedrängt und es gab eine Kampagne gegen den Direktor des Nationaltheaters. Besondere Sorge bereiten mir die Entwicklungen im Medienbereich: So wurden alle öffentlich-rechtlichen Sender mit der Nachrichtenagentur verschmolzen.

sueddeutsche.de: Welche Folgen hat das Mediengesetz, das vor Weihnachten beschlossen wurde?

Lendvai: Das Gesetz zeigt, dass die Fidesz-Regierung die Medien unter ihre Kontrolle bringen will. Die genauen Pläne kennt wohl nur die Vorsitzende des neuen Medienrats, eine brave Fidesz-Funktionärin namens Annamaria Szalai, die für neun Jahre bestellt wurde. Das Gremium amtiert also bis nach der Wahl 2018 und die Opposition ist darin nicht vertreten. Die Kompetenzen sind weitreichend: Der Medienrat kann nun alle Posten vom Generaldirektor abwärts im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie in der Nachrichtenagentur bestimmen.

sueddeutsche.de: Kritik ist also künftig unerwünscht.

Lendvai: Es wird eine zentrale Nachrichtenredaktion aufgebaut, die alle staatlichen Medien mit Nachrichten versorgen wird. Fidesz will auch per Quote festlegen, wie viel Unterhaltung im Programm gesendet und wie oft über Verbrechen berichtet wird. Wenn künftig ein Politiker oder ein Unternehmen gegen die Berichterstattung protestiert, dann drohen den Zeitungen oder Fernsehsendern Strafen von bis zu 700.000 Euro. So wird in vielen Fällen vorauseilender Gehorsam erzwungen, denn zugleich wird im Rundfunkbereich wohl jede vierte oder sogar jede dritte Stelle gestrichen. Diese Medienbehörde zeigt die Richtung an, in die sich Ungarn entwickelt: Es geht eher in Richtung Weißrussland als in Richtung der Bundesrepublik Deutschland oder Österreich.

Rechte Hegemonie in den Medien

sueddeutsche.de: Eine Schlüsselrolle scheint Premier Orbán zu spielen. Welche Bedeutung misst der Regierungschef den Medien zu?

Demonstration against a new media law to be passed by parliament

Dieser Protest gegen das umstrittene Mediengesetz hat nichts genutzt: Mit ihrer Zweidrittelmehrheit hat die Fidesz-Partei die neuen Regeln im ungarischen Parlament durchgedrückt.

(Foto: dpa)

Lendvai: Es gibt einen sehr mutigen Mann namens Jozsef Debreczeni: Er war einer der vier ersten demokratisch gewählten Abgeordneten und eine Zeitlang politischer Berater von Orbán. In seiner zweiten Biographie über Orbán zitiert Debreczeni aus Tonbandaufnahmen, wie Orbán über die Amtszeit des ersten Premierminister Jozsef Antall (er regierte von 1990 bis 1993, Anm. d. Red.) spricht. Orbán war damals nicht schockiert darüber, dass Antalls Partei die Wahl verloren hatte, sondern dass es der konservative Politiker versäumt hatte, Kontakte mit den reichen Industriellen zu knüpfen, Zeitungen zu gründen und Positionen im Rundfunk zu erobern. Wörtlich sagte der heutige Ministerpräsident: "Wir kamen in die Opposition und wir saßen mit nacktem Hintern da."

sueddeutsche.de: Offenbar will er es nun anders machen.

Lendvai: Orbán hat schon in der Oppositionszeit sehr geschickt mit Hilfe von reichen ungarischen Oligarchen Zeitungen gegründet, so dass jetzt in Ungarn eine klare rechte und rechtsradikale Hegemonie herrscht. Das gilt für Printmedien ebenso wie für den Hörfunk und das Fernsehen. Das einzige, was sie noch nicht kontrollieren, sind die Blogs oder Internetforen.

sueddeutsche.de: Aus Protest gegen das Mediengesetz erschienen ungarische Zeitungen mit leeren Titelseiten und auch die ausländischen Blätter berichteten kritisch. Wie wird dies wahrgenommen?

Lendvai: Leider wird in ungarischen Zeitungen diese Kritik nicht ausführlich abgedruckt. Stattdessen reißt man einige Sätze aus dem Zusammenhang und spricht von einer Verschwörung - in den rechten Kreisen sind stets die Zionisten schuld, bei den anderen sind es die internationalen Banken. Die Gegenmeinung wird ignoriert und so ahnen viele Leser nicht, dass dieses Mediengesetz im Ausland verurteilt wird. Es ist sehr schade, dass es keine Sender wie Radio Free Europe oder Voice of America mehr gibt, die wie früher in der Landessprache über die Welt und die Medienberichterstattung über das jeweilige osteuropäische Land berichten.

sueddeutsche.de: Vielen Ungarn bekommen also gar nicht die nötigen Informationen.

Lendvai: Eine große Gefahr besteht darin, dass viele Politiker nicht wirklich wissen, was im Ausland geschrieben wird. Das mag daran liegen, dass sie keine Fremdsprachen beherrschen oder keine Zeit haben. Es droht die Situation, dass die maßgeblichen politischen Akteure in Ungarn entweder nicht wissen, was das Ausland denkt - oder sie nehmen keine Notiz davon und machen, was sie wollen.

sueddeutsche.de: Sie ziehen in Ihrem Buch "Mein verspieltes Land" eine schonungslose Bilanz über die vergangenen zwanzig Jahre. Ungarn sei eine "Demokratie ohne Demokraten". Wie reagiert man in Ihrer Heimat auf solche Kritik?

Lendvai: Es wird abgelehnt und wie so oft wird auch in meinem Fall versucht, die Person des Kritikers mit lächerlichen Argumenten zu diskreditieren. Man probiert, den Spiegel zu zerbrechen und nicht die Verhältnisse zu ändern. Das war immer so in autoritären oder halbautoritären Systemen. In Ungarn wurde bisher nur das Schlusskapitel über Orban gelesen, das deutsche Zeitungen aus Gründen der Aktualität abgedruckt haben. Das Buch wird im Februar in Ungarn erscheinen.

"Land ohne Dialogbereitschaft"

Paul Lendvai

Der ungarischstämmige Publizist Paul Lendvai veröffentlichte zuletzt das Buch "Mein verspieltes Land", in dem er die Entwicklung seines Heimatlandes in den vergangenen zwanzig Jahren analysiert.

(Foto: Ecowin Verlag)

sueddeutsche.de: In Zürich konnten Sie jüngst nur unter Polizeischutz auftreten.

Lendvai: Das hatte folgenden Hintergrund: Es gibt einen Verband der Auslandsungarn, der sehr rechts von Fidesz steht. In Zürich haben einige dieser Leute versucht, bei einer Veranstaltung Plakate gegen meine angebliche Hetze gegen die Ungarn aufzuhängen. Es kamen viele Leute und es gab keine Zwischenfälle. Im November wollte die Heinrich-Böll-Stiftung in Frankfurt eine Diskussion mit dem Schriftsteller György Dalos abhalten. Das Ganze sollte in der Universität stattfinden und angeblich gab es wieder Drohungen. Weil kein Polizeischutz möglich war, wurde alles abgesagt. Einen Tag später in Berlin war alles ruhig und in Österreich, wo ich momentan zu Lesungen gebeten werde, gab es noch nie Drohungen.

sueddeutsche.de: Sie bleiben also gelassen.

Lendvai: Ich habe viel durchgemacht in meinem Leben. Ich habe die braune und die rote Diktatur erlebt und möchte es halten wie der in Ungarn geborene Börsenspekulant André Kostolany. Der sagte einmal: "Ich möchte auf den Barrikaden im Kampf gegen die Dummheit sterben". So muss man gegen Dummheit, Engstirnigkeit und Rassismus kämpfen - mit dem Wort, nicht mit Gewalt.

sueddeutsche.de: Sie nennen Ungarn ein "Land ohne Dialogbereitschaft". Die Politiker des rechten und linken Lagers reden kaum mehr miteinander. Woher kommt diese Polarisierung?

Lendvai: Ein ungarischer Schriftsteller hat vor vielen Jahren in einer literarischen Zeitung geschrieben: 'Bei uns gibt es Liebe nur im Nachruf'. Das war natürlich eine harte Aussage, aber der Hass, der in Ungarn herrscht, ist beklemmend. Er kommt vor allem aus den Quellen der Ignoranz, denn man hat die Zwischenkriegszeit, die Kriegszeit, den ungarischen Holocaust und auch die Zeit des Kommunismus nicht wirklich aufgearbeitet. Nach 1989 stand niemand vor Gericht, es erfolgte keine Abrechnung mit den Schuldigen. Da wurde vieles unter den Teppich gekehrt, es sind alte Rechnungen offen und natürlich wird um Geld und Einfluss gerungen. In Medien und Politik redet man nicht von Gegnern, sondern von Feinden - man benutzt eine Sprache, die in Deutschland undenkbar ist.

sueddeutsche.de: Das öffentliche Leben scheint wirklich vergiftet zu sein.

Lendvai: Die Atmosphäre der Intoleranz und des Hasses macht mir große Sorge. Denn es ist natürlich auch schlecht für die junge Generation, die nicht zur Toleranz oder zum Verständnis erzogen werden. Es herrscht kein Klima der Verständigung, sondern es weht ein nationaler, intoleranter Wind.

sueddeutsche.de: Lässt sich so der Erfolg der rechtsextremen Jobbik-Partei erklären, die offen gegen Sinti und Roma sowie Juden hetzt? Im April erhielt die Partei jede sechste Stimme.

Lendvai: Die extreme Sprache der rechten und rechtsradikalen Medien gegen die Minderheiten hat sicher zu Jobbiks Erfolg beigetragen. Hinzu kommen der Absturz eines Teils der Mittelklasse in die Armut sowie die Perspektivlosigkeit der Jugend. Auch die nationale Frage, sprich das Schicksal der 3,5 Millionen Ungarn im Ausland, haben die Spitzenpolitiker von Jobbik oft betont.

sueddeutsche.de: Im Wahlkampf hat sich Orbán nie von solchen Aussagen distanziert. Hat er mittlerweile Stellung bezogen?

Lendvai: Es gibt keine offenen rassistischen, antisemitischen Bemerkungen des Ministerpräsidenten. Auch über die Roma hat er sich nie abwertend geäußert. Doch zugleich hat er ebenso wenig die Aussagen von Jobbik oder ihres paramilitärischen Arms, der Ungarische Garde, verurteilt. Das tut er nur in vertraulichen Gesprächen oder bei Konferenzen. Seit der Wahl ist es Orbán aber gelungen, dank eines ausgesprochen nationalen Kurses Jobbik zu schwächen. Mit seinen Initiativen zur doppelten Staatsbürgerschaft und zum Wahlrecht für Auslandsungarn lässt er Jobbik kaum Material mehr übrig. Es zeichnet sich ein Zerfall dieser rechtsextremen Fraktion ab.

sueddeutsche.de: Bis zur Verabschiedung des Mediengesetzes hatten sich die Europäische Kommission und die Nachbarstaaten mit Kritik an der Situation in Ungarn zurückgehalten. Wünschen Sie sich deutlichere Worte aus dem Ausland?

Lendvai: Die politische Entwicklung in Mitteleuropa zeigt, dass die Entscheidungen in den Ländern selbst, in diesem Fall in Ungarn, fallen müssen. Aber einem solch kleinen Land mit zehn Millionen Einwohnern kann die Meinung der entwickelten Länder nicht gleichgültig sein. Deshalb ist es wichtig, dass man in Brüssel und in Straßburg die Entwicklung verfolgt, vor allem auch nach den sechs Monaten der EU-Präsidentschaft. Angesichts der Schwäche der Opposition in Ungarn können die Mahnungen oder die Warnungen nur aus dem Ausland kommen - von den ausländischen Finanzinstitutionen und der ausländischen Medien.

sueddeutsche.de: Bisher hat das jedoch keine Wirkung gezeigt.

Lendvai: In Ungarn gibt es heute ein einziges Machtzentrum. Im Klartext heißt das: Der geniale Machtpolitiker Viktor Orbán wird früher oder später auch verstehen, dass Ungarn in einer stürmischen Welt der Globalisierung seinen Weg nicht komplett allein gehen kann.

Das Buch "Mein verspieltes Land", in dem Paul Lendvai die Entwicklung Ungarns seit 1990 beschreibt und analysiert, ist im Salzburger Ecowin Verlag erschienen und kostet 23,60 Euro.

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