Politik:Westliche Demokratien verlieren an Strahlkraft

Meinungsmacher: Wladimir Putin auf einem Plakat der Organisation Reporter ohne Grenzen.

Grundrechte eingeschränkt: Protest-Poster für Pressefreiheit zeigt Russlands Präsident Putin und Chinas Präsident Xi Jinping in starken, aber erfundenen Posen

(Foto: AFP)

Lange galt die Hoffnung: Auch despotische Staaten werden letztlich zu freien Gesellschaften westlicher Prägung. Doch der Anteil astreiner Demokratien geht zurück.

Von Roland Preuß

Es schien schon geschafft zu sein. Die selbstherrlichen Gestalten, sie stürzten einer nach dem anderen, damals in den Revolutionen von 1989/90: In Polen musste Präsident Wojciech Jaruzelski abtreten, der General mit der dunklen Brille; in der DDR Erich Honecker. In Rumänien erschoss man den Oberfinsterling Nicolae Ceauşescu, der sein Land mit stalinistisch-harter Hand ins Elend geführt hatte. Wenige Monate später konnten die Bürger der einst realsozialistischen Länder Osteuropas frei wählen. Es war die Zeit des Staunens und der Freude. Und es war klar, wohin der Weg führen sollte: Die große Mehrheit wollte eine Demokratie nach westlichem Vorbild, Wohlstand, Bürgerrechte, Meinungsfreiheit. Sie wollten endlich ein "Leben in der Wahrheit", wie der damalige tschechoslowakische Regimekritiker und spätere Präsident Václav Havel sagte.

Das Modell westlicher Demokratien strahlte, so stark, dass der amerikanische Politologe Francis Fukuyama 1992 in seinem gleichnamigen Buch das "Ende der Geschichte" ausrief: Nach dem Sieg über den Kommunismus sei das ewige ideologische Ringen um die richtige Regierungsform beendet. Die Demokratie westlicher Prägung verbreite sich nun allgemein als das endgültige Modell der Herrschaft.

Fukuyama, der heute an der Stanford University lehrt, knüpfte damit an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel an, dem nun plötzlich neue Wertschätzung zuteil wurde. Hegel hatte im 19. Jahrhundert eine Geschichtsphilosophie entworfen, die später die Postmodernisten und andere in einem tiefen Grab versenken sollten. Der schwäbische Preuße Hegel blickte mit Fortschrittsoptimismus auf die Historie, so brutal und sinnlos sie auch erscheinen möge. "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit", so lautet sein Schlüsselsatz.

Im Hintergrund wirkt bei Hegel der "Weltgeist", eine Art Aufsichtsratsvorsitzender des Weltgeschehens, der all das Chaos zu etwas Sinnvollem formt. In die Gegenwart übersetzt: Die Menschen werden die Freiheit einfordern und durchsetzen, wenn sie erst einmal von ihr wissen, wenn sie sich gelöst haben von abergläubischen, religiösen oder ideologischen Vorstellungen, wenn sie schmerzvoll erfahren haben, wie sie getäuscht werden.

Hatte er da nicht grundsätzlich recht? Ja, sagten Fukuyama und andere - mit dem feinen Unterschied, dass sie nicht wie Hegel den preußischen Obrigkeitsstaat als Modell ansahen, sondern die liberalen Demokratien. Auf der ganzen Welt schienen sie sich durchzusetzen, von Chile, wo die Bürger nach der Diktatur des Augusto Pinochet 1989 frei ihren Präsidenten bestimmen durften, über Russland, wo Boris Jelzin 1991 zum Präsidenten gewählt wurde, bis nach Südkorea, wo die Generäle ihren Griff lockerten und von 1987 an das Volk mitreden ließen. Diese Entwicklung gab den Optimisten recht, zumindest bis ins neue Jahrtausend hinein.

Der Anteil astreiner Demokratien ist zurückgegangen

Die Demokratie westlicher Machart schien das Produkt des "Fortschritts im Bewusstsein" zu sein, das legen auch die Zahlen der amerikanischen Organisation Freedom House nahe (siehe Grafik), die seit Jahrzehnten beurteilt, wie demokratisch, rechtsstaatlich und menschenrechtsfreundlich die Staaten der Welt agieren. Der Anteil der als wirklich frei bewerteten Länder stieg - wenn auch in Wellenbewegungen, weil die Zahl der Staaten in dieser Zeit ebenfalls zunahm, etwa durch den Zerfall der Sowjetunion.

Das bislang letzte Mal hat der Weltgeist offenbar beim Arabischen Frühling 2011 gezuckt. Von Tunesien bis nach Jemen lehnten sich die Menschen gegen Autokraten auf - mit dem bekannten Ergebnis: Der Aufstand mutierte zum Bürgerkrieg wie in Syrien; er scheiterte, wie in Saudi-Arabien - oder er brachte neue Autokraten hervor wie Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten.

Politik: *Anzahl schwankt zwischen 165 und 195; Quelle: Freedom House; SZ-Grafik

*Anzahl schwankt zwischen 165 und 195; Quelle: Freedom House; SZ-Grafik

Welches Land strebt heute noch den Übergang zu einer wirklichen Demokratie an? Viele fallen einem da nicht ein. Immerhin: Tunesien ist auf einem schwierigen, aber guten Weg; und Myanmar, wo die Partei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi die Regierung führt, nach Jahrzehnten der Militärherrschaft. Und sonst?

Offenbar lassen sich derzeit keine Massen auf die Straße bringen für diese Idee. Das Bild von der Freiheit im Westen, es war stets auch verknüpft mit dem Wohlstand dort. Wirtschaftlicher Erfolg verschafft einer Regierung neue Anhänger, aber er wirkt auch nach außen, als Vorbild. Doch auch dieses Image hat gelitten, seit der Finanz- und Schuldenkrise, die einigen Staaten wie Italien massenhaft Arbeitslose und harsche Sparprogramme bescherte. In autoritären Staaten wie China dagegen wuchs der Wohlstand munter weiter.

Betrachtet man die blanken Zahlen von Freedom House, sind dies Sorgen auf hohem Niveau. Der Anteil astreiner Demokratien ist etwas zurückgegangen, vom niedrigen Stand der 1980er-Jahre liegt man in der Gegenwart aber weit entfernt. Doch was ist, wenn die Wahl in den USA am 8. November Donald Trump ins Präsidentenamt bringt? Oder bei der Präsidentenwahl im April 2017 in Frankreich Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National siegt?

Francis Fukuyama glaubt trotz allem, dass sich das Muster liberaler Demokratien durchsetzen wird. Die Zukunft der Menschheit liege nicht in autoritären Staaten im Stile Russlands oder Chinas. Das Ende der Geschichte sei nicht aufgeschoben, sagt Fukuyama. Nur: "Wir gehen derzeit in die falsche Richtung."

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