Reisen in Krisenregionen:Sommer, Sonne und Soldaten

Tausende Touristen wurden von dem Umsturz in Tunesien überrascht. Ist es ethisch vertretbar, in einer Krisenregion Urlaub zu machen? Zumal vor allem große Hotelketten oft so wirtschaften, dass nur wenig Geld im Reiseland bleibt.

Jeanne Rubner

Sylvain Diaz aus Lasborde bei Carcassonne wollte nur für ein paar Tage Sonne tanken - und fand sich inmitten einer Revolution wider. Er habe Gewehre gesehen, die auf ihn gerichtet waren, erzählte der Franzose der Lokalzeitung La Dépêche nach seiner Rückkehr aus Tunesien auf dem Flughafen von Toulouse. Immerhin, Diaz hatte noch vor seinem Abflug am 10. Januar im Badeort Monastir angerufen. "Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur", hatte man ihm gesagt - Tunis ist weit weg. Hier sei es ruhig. Stattdessen erlebt Diaz eine Odyssee: Den ersten Versuch, aus Tunis nach Hause zu fliegen, muss er abbrechen - sein Flug ist annulliert. Zurück in Monastir, verhindern Menschenmassen, dass er in sein Hotel zurück kann. Erst am Montag verschafft sein Reiseveranstalter ihm einen Platz auf einem Flug in die Heimat.

Ist Sylvain Diaz selbst schuld an seiner verpatzten Urlaubsreise? So wie auch die 8000 anderen französischen und die mehr als 6000 Deutschen, die von Tui, Rewe Touristik oder Thomas Cook aus dem vermeintlichen Urlaubsparadies Tunesien zurückgeholt werden mussten? Viele Rückkehrer zeigten sich übrigens überrascht angesichts der Gewalt auf den Straßen Tunis' und anderer größerer Orte. Viele hatten in ihren Strandhotels und Wellness-Resorts ("Hier ist alles nur Ruhe, Ordnung und Schönheit" lautet der Werbeslogan eines Luxushotels) nichts davon mitbekommen. Sie blieben unter Palmen, als auf den Straßen die Panzer rollten.

Was geht mich mein Urlaubsland an?

Fairerweise muss man sagen, dass nicht nur viele Tunesien-Touristen wohl eher gedankenlos in die Sonne von Djerba, Hammamet oder Monastir flogen. Auch europäische Politiker kritisierten nicht das diktatorische Regime von Tunis, das politische Gegner verfolgte und wegsperrte und sich außerdem auf Kosten einer verarmenden Bevölkerung bereicherte. Dass Tunesien womöglich kein hundertprozentig sicheres Reiseland ist, war spätestens seit dem Attentat auf die Synagoge von Djerba klar - aber so lange Tunis die Islamisten im Griff hatte, tolerierte man die Unterdrückung.

Ein Diktator regiert? Die Einheimischen sind arm? - Na und, was geht mich mein Urlaubsland an? Diese Haltung dürfte weit verbreitet sein. Wobei sie nicht nur auf die Pauschaltouristen zutreffen muss, die sich für 1500 Euro "all inclusive" zwei Wochen lang in der Dominikanischen Republik verwöhnen lassen. So können durchaus auch die Abenteuerreisenden denken, die in Myanmar durchs Gebirge reiten, weil es hier noch so wunderbar exotisch ist - nachdem die Generäle das Land jahrzehntelang hermetisch abgeriegelt haben.

"Erholung, Kraft tanken, Abschalten"

"Tourismus hilft den Menschen" entgegnet Torsten Schäfer vom Deutschen Reiseverband, der alle großen Veranstalter vertritt. Die Entscheidung, wohin man reise, müsse jeder selbst übernehmen, aber prinzipiell findet er es richtig, dass Reisen in alle Länder angeboten werden, vor denen das Auswärtige Amt nicht explizit warnt.

Und wenn Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi beschließe, an der Mittelmeerküste Hotelanlagen für deutsche Touristen zu bauen? Dann werde man das mit dem Auswärtigen Amt besprechen und gegebenenfalls Reisen anbieten, sagt Schäfer. "Erholung, Kraft tanken, Abschalten - das sind immer noch die Hauptmotive für den Urlaub", sagt Schäfer - und das sei legitim. Für Auslandsreisen geben die Deutschen um die 60 Milliarden Euro jährlich aus, auf 78 Millionen Reisen pro Jahr (dazu zählt alles, was länger als fünf Tage dauert) kommen die Bundesbürger.

Es ist wohl verständlich, dass der Verband der Veranstalter wenig Interesse an einer Grundsatzdiskussion um politisch korrektes Reisen hat. Immerhin erwähnt Schäfer "enorme Wachstumsraten" beim "Volunteering Reisen", auch Projekturlaub genannt, bei dem man zum Beispiel nicht nur die Naturschönheiten Brasiliens besichtigt, sondern zwei Tage im Urwald verbringt und die Wände eines Kindergartens streicht oder Setzlinge pflanzt. Bislang sind die Zahlen der selbstlosen Touristen allerdings für eine verlässliche Statistik zu gering.

Eine Vorstellung davon, wie viel Gedanken sich Touristen über ihr Reiseland machen, können allenfalls die Zahlen des alternativen Verbands "forum anders reisen" geben. Dessen Mitglieder haben 2009 etwa 127 Millionen Euro umgesetzt. Oder anders gesagt: zwei Promille des gesamten Marktes. Nun sind gewiss nicht alle Reiseveranstalter Mitglieder des Forums und zudem enthalten die Zahlen auch nicht die Ausgaben der vielen Individualurlauber - aber der Anteil ist dennoch frappierend gering.

Nutzen vieler Projektreisen umstritten

"Anders reisen" - das bedeutet nach Vorstellung des Verbands vor allem, möglichst viel vom Land zu sehen. Die Veranstalter müssen zudem dafür sorgen, dass die Reisen nicht nur umweltbewusst ablaufen (etwa in Form einer CO2-Abgabe für den Flug), sondern auch wirtschaftlich und sozial fair. Projekturlaube sieht Forum-Sprecherin Ute Linsbauer dagegen eher kritisch: "Wenn Touristen eine Schule renovieren, nehmen sie womöglich den Einheimischen sogar Jobs weg". Auch bei Entwicklungshilfeorganisationen im Ausland ist der Nutzen vieler Projektreisen umstritten.

Verantwortung der Reiseveranstalter

Wie viel Geld letztlich im Land bleibt und der Bevölkerung zum Überleben hilft, ist schwer abzuschätzen. Bei der GIZ, der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Eschborn, ist man der Meinung, dass das Klischee vom Fernreisenden, der ohne jeden Kontakt mit der Bevölkerung in seiner Hotelanlage sitzt, ohnehin längst überholt sei. Immer mehr Veranstalter böten lokale Ausflüge an, sagt GIZ-Tourismusexperte Klaus Lengefeld, und: "Etwa 20 Prozent der Ausgaben der Fernreisenden bleiben heute in der Urlaubsregion." Zudem bringe Tourismus nicht nur Geld, sondern sorge auch für Jobs.

"'Tourismus gleich Entwicklung' ist ein Mythos"

Hilft also Tourismus gegen Armut und Unterentwicklung und damit letztlich gegen politische Unterdrückung? Zumindest in Tunesien haben ja die gut ausgebildeten jungen Menschen revoltiert.

"Die Formel 'Tourismus gleich Entwicklung' hat sich längst als Mythos herausgestellt", widerspricht Heinz Fuchs vom Evangelischen Entwicklungsdienst dem Credo der GIZ. Gerade die internationalen Hotelketten wirtschafteten so, dass wenig Geld im Land bleibe. Den kleineren Tourismusprojekten dagegen - und das seien genau die, bei denen Menschen vor Ort am meisten geholfen wird - fehle es an Marktzugängen und stabilen, kalkulierbaren Gästezahlen. "Beispiele aus Kenia oder der Dominikanischen Republik zeigen, dass Pauschaltourismus keineswegs ein Allheilmittel für arme und strukturschwache Regionen ist", sagt Fuchs.

"Das Werben mit sogenannten Reiseparadiesen" hält Fuchs jedenfalls für unlauter. "Wer Touristen in Resorts sperrt, in denen sie keine Chance haben herauszukommen, wird seiner Verantwortung als Reiseveranstalter nicht gerecht", kritisiert Fuchs. "All inclusive" fördere leider die Mentalität, dass für alles gesorgt werde. Anders als der Deutsche Reiseverband findet Fuchs durchaus, dass Anbieter ihre Kunden über die politische und soziale Lage im Reiseland aufklären sollten - und zumindest dafür sorgen müssen, dass in ihren Hotels Menschenrechte nicht mit Füßen getreten werden.

"Eine Reise ist immer auch eine Reise in eine andere Lebensrealität", so Fuchs. "Wir sollten wissen, wohin wir reisen." Zumindest Sylvain Diaz und ein paar tausend Tunesien-Urlauber wissen das jetzt.

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