Leichtathletik-WM:Ein lautes "Buuuuuuuh" für den Weltmeister

Selbst die Briten verlieren ihren Sportsgeist nach dem 100-Meter-Finale. Sieger und Dopingsünder Justin Gatlin wird ausgepfiffen, Usain Bolt bejubelt - dabei wären auch bei ihm Zweifel angebracht.

Von Joachim Mölter, London

Was ist bloß aus dem guten alten Sportsgeist der Briten geworden, aus dieser grundlegenden Haltung, den Sieger zu feiern und den Verlierer zu ehren? Am Samstagabend jagten diese Briten einen Sieger aus ihrem Olympiastadion fort, einen Zweitplatzierten beachteten sie überhaupt nicht, und einen Dritten feierten sie, als wäre der direkt vom Himmel herabgestiegen, um die Welt zu retten - oder wenigstens die Leichtathletik - und als hätte er zu diesem Zweck die Beatles und Bob Marley mitgebracht.

Es war eine unwirklich anmutende Atmosphäre, welche die 55 000 Zuschauer im Stadion des Londoner Stadtteils Stratford an diesem Samstagabend erzeugten, nach dem 100-Meter-Finale der Männer.

Die Leute waren ja alle gekommen, um das Ende einer Ära mitzuerleben, sie wollten den bald 31 Jahre alten Usain Bolt noch einmal in Aktion sehen, den größten Sprinter der Leichtathletik-Geschichte, den größten Leichtathleten der Sport-Historie, so wird er zumindest beworben. Der Jamaikaner beendet bei dieser WM seine Karriere, die 100 Meter waren sein letztes Einzelrennen vor der Staffel am kommenden Wochenende; er sollte es gewinnen so wie alle Finals zuvor seit 2008. Zumindest war das die Erwartung, das Skript.

Die Leute, die also alle gekommen waren, um Usain Bolt ein letztes Mal siegen zu sehen, feierten ihn dann auch - ungeachtet des Umstands, dass er bloß Dritter geworden war, in 9,95 Sekunden, um eine Hundertstelsekunde geschlagen von Christian Coleman. Der junge Amerikaner hat erst in dieser Saison auf sich aufmerksam gemacht und konnte nach diesem Rennen trotzdem unbeachtet seiner Wege gehen. Weil halt noch einer schneller gewesen war - sein Landsmann Justin Gatlin (9,92 Sekunden). Der Kerl, den das Publikum zum Teufel wünschte.

Im Halbfinale lief Coleman Bolt davon

Der 35-Jährige ist nun der älteste 100-Meter-Weltmeister der Leichtathletik-Geschichte, zwölf Jahre nach seinem ersten Titelgewinn in Helsinki hat er den zweiten folgen lassen, das ist ebenfalls einzigartig. Aber Gatlin ist auch schon zweimal wegen positiver Dopingproben gesperrt gewesen und deshalb vom Londoner Publikum ausdauernd ausgebuht worden, sobald er die Bahn betreten hatte, vor dem Vorlauf, dem Halbfinale, dem Finale. Dieser böse Bube hatte nun also die Party verdorben, die zu Ehren des ewigen Goldjungen Usain Bolt gegeben werden sollte. "Buuuuuuuh", hallte es von den Tribünen. "Ich werde lauter ausgebuht als andere bejubelt", stellte Gatlin später fest: "Aber ich habe das alles ausgeblendet." Es war ja nicht das erste Mal, dass er den Schurken geben musste, während Bolt den Helden spielen durfte.

Es besänftigte die Zuschauer auch nicht, dass Gatlin nach dem Zieldurchlauf vor ihrem Liebling Bolt in die Knie ging, den Kopf senkte, sich ihm so scheinbar unterwarf, die Größe seines Gegners anerkannte: Das Publikum wollte einfach nicht wahrhaben, dass Gatlin gewonnen und Bolt verloren hatte. So gnadenlos es den einen ausbuhte, so bedingungslos bejubelte es den anderen auf dessen Ehrenrunde. Dabei wären auch bei Bolt ein paar Zweifel angebracht, und sei es nur, weil er in seiner besten Karrierephase so unfassbar viel schneller war als selbst die besten nachgewiesen gedopten Sprinter vor ihm. Auch Gatlin reicht mit seinen 2015 aufgestellten Bestzeiten ja nicht an Bolt heran: Mit 9,74 Sekunden über 100 Meter und 19,57 über 200 Meter ist der Abstand zu dessen Weltrekorden (9,58 und 19,19) bemerkenswert deutlich.

An Bolts Denkmal ist nicht mehr zu rütteln

Der Weltverbands-Präsident Sebastian Coe, in den achtziger Jahren über 1500 Meter selbst zweimal Olympiasieger, hat Bolt in diesen Tagen von London häufig mit Muhammad Ali verglichen, dem "größten Sportler aller Zeiten", zu dem sich der Boxer in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung frühzeitig selbst erklärt hat. Ali ist groß geworden durch seine Kämpfe gegen Joe Frazier und George Foreman, und dass er am Ende seiner Karriere von einem gewissen Trevor Berbick verhauen worden ist, hat ihn nicht kleingekriegt. Den Fußballer Pelé verbindet man mit drei Weltmeistertiteln von Brasilien und tausend Toren für den FC Santos, nicht mit den Freizeitkickern von Cosmos New York. Und der Basketballer Michael Jordan hat seinen Ruhm und Reichtum auf die Titelgewinne mit den Chicago Bulls gegründet, nicht auf die verpassten Playoffs mit den Washington Wizards zum Ende seiner Laufbahn.

Bei Usain Bolt ist das nicht anders: Er hat sich mit seinen Olympiasiegen von Peking 2008, London 2012 und Rio 2016, mit seinen Weltrekorden über 100, 200 und 4x100 Meter ein Denkmal gesetzt, an dem jetzt nicht mehr zu rütteln ist. Forever faster steht da drauf, wie auf den T-Shirts und den Spikes, die er in London getragen hat: für immer schneller. Bolt wusste, dass er eine Niederlage verschmerzen kann. "Das ändert nichts in meiner Karriere", resümierte er gelassen. Dass er nach seinem Olympia-Triple von Rio überhaupt noch einmal auf die Bahn zurückgekommen sei, bereue er jedenfalls nicht: "Ich hab's für die Fans getan. Tut mir leid, dass ich ihnen nichts Besseres bieten konnte, aber so ist das halt manchmal."

Dieses 100-Meter-Rennen von London hat ja bei aller Überhöhung Bolts auch eine schlichte Ebene, eine rein sportliche. Und auf der hatte sich der Jamaikaner frühzeitig auf eine Niederlage im Finale einstellen können, die erste seit Beginn seines Siegeszuges vor neun Jahren, der ihm insgesamt acht Olympiasiege und elf Weltmeistertitel einbrachten. Er war in diesem Sommer schwer in die Gänge gekommen und vor der WM nur dreimal gestartet; der Rücken hatte ihm zu schaffen gemacht. Nach dem Vorlauf hatte er sich über die Startblöcke beschwert ("die schlechtesten, die ich je hatte"), im Halbfinale war ihm Coleman dann das erste Mal davongelaufen. Bolt hatte das lässig zu überspielen versucht mit einem provozierenden Seitenblick auf den letzten Metern, aber Fakt war, dass er nicht an Coleman vorbeigekommen war und dieser sich nicht hatte einschüchtern lassen. "Ich wusste, dass ich in Schwierigkeiten bin, wenn ich im Endlauf keinen guten Start hinlege", gab Bolt nachher zu.

Bolt gibt den großzügigen Verlierer

Die Reaktionszeiten bestätigten das: Coleman war als Erster aus dem Block nach 0,123 Sekunden, Gatlin brauchte 0,138 - bei Bolt dauerte es 0,183 Sekunden. Er hatte das Rennen schon beim ersten Schritt verloren, den Rückstand beim Start holte er nicht mehr auf, nicht in seiner derzeitigen Verfassung.

Hernach gab Usain Bolt dann den guten, großzügigen Verlierer, er nahm sogar seinen Bezwinger Gatlin in Schutz. "Er hat seine Strafe verbüßt", sprach er, "ich respektiere ihn als Wettkämpfer. Er ist einer der Besten, gegen die ich je angetreten bin." Und Gatlin berichtete später stolz, dass ihm Bolt gratuliert und ins Ohr geflüstert habe: "Du hast diese ganzen Buh-Rufe nicht verdient."

Als die Sprache dann auf das unvermeidliche Thema Doping kam, machten die Kontrahenten sogar gemeinsame Sache. Bolt fand die Frage, ob die vergleichsweise langsamen Zeiten von London etwas mit verstärkten Anti-Doping-Bemühungen in der Leichtathletik zusammenhängen, "wirklich respektlos". Ja, die Zeiten seien langsamer gewesen als früher, gab Bolt zu, aber sie spielten im Grunde keine Rolle: "Wir haben eine gute Show geliefert." Auch wenn das Ende nicht jedem gefallen hat.

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