Tony Martin bei der Rad-WM:"Am liebsten würde ich vom Radsport wegrennen"

Lesezeit: 3 min

"Das ist eine große Enttäuschung": Tony Martin über seine WM-Silbermedaille. (Foto: dpa)

Tony Martins Goldmedaille im WM-Zeitfahren war so fest eingeplant wie der Anstich beim Oktoberfest, stattdessen wird der 29-Jährige Zweiter hinter dem Briten Bradley Wiggins. Die Niederlage könnte Martin aber nutzen.

Von Johannes Knuth

Tony Martin versuchte noch einmal alles. Er verzog die Mundwinkel, formte die Lippen. Aber was er auch tat, er konnte einfach kein Lächeln hervorpressen. Irgendwann hörte Martin dann auf, Freude zu simulieren über diese Silbermedaille, die er gerade im Zeitfahren der Rad-WM gewonnen hatte. Und so stand er verloren auf dem Podium herum, ein schiefes, eingefrorenes Lächeln auf dem Gesicht, während neben ihm der Brite Bradley Wiggins das Regenbogentrikot des neuen Weltchampions in Empfang nahm.

Tony Martin ist also Zweiter geworden im Zeitfahren dieser Weltmeisterschaft - nur Zweiter. Vor der Ausscheidung im spanischen Ponferrada hatte der 29-Jährige über mehr als ein Jahr kein längeres Zeitfahren mehr verloren, er hatte die vergangenen drei WM-Entscheidungen für sich entschieden, die Goldmedaille am Mittwoch war so fest eingeplant wie das "O'zapft" is beim Oktoberfest. Nach der missglückten Titelverteidigung bemühte sich Martin dann gar nicht erst, seinen zweiten Platz schönzureden. "Ich wollte Gold, das ist eine große Enttäuschung", sagte er, dann schwelgte er noch ein wenig in seiner Enttäuschung: "Am liebsten würde ich jetzt vom Radsport wegrennen, um den Kopf freizubekommen. Jetzt kommen viele gut gemeinte Ratschläge, auf die ich eigentlich keine Lust habe."

Radsport-WM
:Favorit Martin verpasst Zeitfahr-Gold

Überraschung im Zeitfahren bei der Rad-WM: Der große Favorit Tony Martin wird Zweiter hinter dem Briten Bradley Wiggins. Damit verpasst Martin auch eine historische Bestmarke.

Trotz allgemeiner Verwunderung, die sich in der Radsportwelt breitmachte: Martin traf die Schlappe in seiner Spezialdisziplin nicht unvorbereitet. Am vergangenen Sonntag hatte er sich mit seiner Quick-Step-Mannschaft mit Bronze im Mannschaftszeitfahren eingestimmt, anschließend stieg er missmutig vom Sattel, weder die Medaillenfarbe noch seine Form stimmten ihn zuversichtlich. "Es waren nicht die besten Vorzeichen, ich bin eben keine Maschine", sagte er.

Im Zeitfahren am Mittwoch startete er noch sehr maschinenhaft. Bei der ersten Zwischenzeit hatte er sich zwei Sekunden Vorsprung auf Wiggins erarbeitet. Doch je länger das Rennen auf dem flachen Parcours andauerte, je hartnäckiger Martin der Wind ins Gesicht blies, desto mehr Zeit verlor er auf den Briten. Aus vier Sekunden wurden zehn, aus zehn bald zwanzig. Als Martin schweißgebadet und mit weit geöffnetem Mund in den letzten, kniffeligen Abschnitt eintauchte, deutete sich die Niederlage bereits an. "Ich wusste", sagte Wiggins später, "wenn ich Tony jemals schlagen würde, dann auf dieser Strecke."

So sehr Martin die Niederlage traf, mittel- bis langfristig könnte sie ihm mehr nutzen als schaden. Man musste sich ja zuletzt langsam sorgen, dass dem 29-Jährigen die Ziele ausgehen. Seinen Wunsch, die Tour de France einmal als Klassementfahrer zu bestreiten, hatte Martin vor kurzem aufgegeben - obwohl er zuvor immer wieder geschwärmt hatte, wie gerne er im Streit ums Gelbe Trikot mitmischen würde.

Stattdessen widmete sich Martin ganz dem einsamen Duell gegen die Uhr. Und weil er das so gut konnte wie kaum ein anderer, fuhr er in letzter Zeit weniger gegen die Uhr, sondern in erster Linie gegen die Geschichtsbücher. Mit einem Sieg in Ponferrada hätte Martin vier WM-Zeitfahrtitel in Serie gewonnen, das hatte vor ihm noch kein Radfahrer vollbracht. Gleichzeitig hätte er zu Fabian Cancellara aufgeschlossen, der Schweizer rangiert mit vier Titeln noch immer an der Spitze der historischen WM-Zeitfahrwertung.

Nach seiner jüngsten Schlappe hat sich Martin nun immerhin ein paar Rekordprojekte aufgehoben. Er will zudem den Stundenweltrekord verbessern, den Jens Voigt als letzte Amtshandlung vor seiner Radsport-Rente verbessert hatte. Und dann kommt Martin noch immer eine wichtige Rolle als Botschafter zu, im Werben um Aufmerksamkeit für den Radsport. Es sind ja gute Tage für die zuletzt krisengeschüttelte Branche. Die alten, dopingbelasteten Fahrer danken ab, die ARD überlegt, wieder Gebührengelder für Tour-de-France-Rechte auszugeben, deutsche Sponsoren verlieren ihre Scheu.

"Doping ist weiter Teil des Systems"

Am Dienstag verkündete ein Shampoo-Hersteller, er werde die Mannschaft des deutschen Sprinters Marcel Kittel als Hauptsponsor unterstützen, als erstes deutsches Unternehmen seit 2010. Die Fahrer inszenieren sich nebenbei als neue Vorzeigegeneration, bis hin zu Anti-Doping-Schwüren auf dem Boulevard. Wobei Jörg Jaksche, früherer Radfahrer, geständiger Dopingsünder und Kronzeuge nun im Wirtschaftsmagazin Brand eins beteuerte: "Im Radsport sind auch nur die Athleten geschasst worden, die Teamleiter, die Manager, die Betreuer, die in das System involviert waren, sind geblieben." Doping, sagte Jaksche, sei weiter Teil des Systems.

Tony Martin bietet der Aufschwung eine weitere Perspektive: Er könnte im Herbst seiner Karriere noch einmal für einen deutschen Rennstall arbeiten. Ihm fehlt zudem, im Gegensatz zu Wiggins, der Olympiasieg im Portfolio. Für Rio 2016, sagt er, sei dieser sein "ultimatives Ziel". Und eine Zeitfahr-Weltmeisterschaft wird bereits im kommenden Jahr wieder ausgetragen, da werde er natürlich wieder angreifen, richtete Martin noch aus. Er lächelte entspannt.

© SZ.de/jkn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: