Lokomotive Deutschland:Aufschwung kommt mit Wucht

"Es geht in Deutschland konjunkturell unglaublich voran." Das starke Wachstum überrascht selbst die Wirtschaftsforscher. Jetzt erhöhen sie ihre Prognosen.

Harald Freiberger, Frankfurt

Selbst die Experten sind verblüfft über die Wucht des Aufschwungs in den vergangenen Monaten. "Es geht in Deutschland konjunkturell unglaublich voran", sagte Markus Beumer der SZ, Vorstand der Commerzabnk für Firmenkunden. "In welcher Geschwindigkeit dies geschieht, war auch für uns überraschend." Noch vor drei Monaten habe man mit einer deutlich angespannteren Situation gerechnet, mit viel mehr Restrukturierungsfällen und krisenhaften Situationen von Unternehmen. Nun zeigten sich vor allem die deutsche Automobilindustrie und der Mittelstand wieder sehr robust. "Deutschland ist zurzeit die Konjunkturlokomotive in Europa", sagte Beumer.

Industrie im Osten im Aufschwung

Lokomotive Deutschland - der Aufschwung ist da: Ein Arbeiter zieht in Leipzig Muttern am Drehgestell eines Eisenbahndrehkrans an

(Foto: dpa)

Die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe legten im Juni um 3,2 Prozent zu, so stark wie selten zuvor, meldete das Statistische Bundesamt Ende vergangener Woche. Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), sagte dazu: "Das Sommermärchen der deutschen Industrie hält an." Weil sich die Signale für einen Boom verstärken, müssen die Forschungsinstitute nun reagieren. "Es ist damit zu rechnen, dass wir unsere Wachstumsprognose von 2,1 auf 2,5 Prozent erhöhen", sagte Joachim Scheide vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. In den vergangenen Wochen seien einige Daten veröffentlicht worden, die darauf hindeuteten, dass das Wachstum im zweiten Quartal noch stärker ausfiel als erwartet.

Die Wachstumszahl für das zweite Quartal veröffentlicht das Statistische Bundesamt am Freitag. "Wir haben schon unterstellt, dass es 1,5 Prozent werden, vermutlich wird es aber noch höher ausfallen", sagt Scheide. Das bedeutet, dass die deutsche Wirtschaftsleistung vom ersten auf das zweite Quartal um diesen Wert zulegte. Einen solchen Anstieg gab es in der Nachkriegsgeschichte nur selten.

"Auch das dritte Quartal ist gut angelaufen, wenn auch nicht mehr in diesem rasanten Tempo", sagte Gernot Nerb, Konjunkturexperte des Münchner Ifo-Instituts. Es sei normal, dass das Wachstum im zweiten Halbjahr nachlasse. Aber der Aufschwung werde breiter und nicht mehr überwiegend vom Export getragen. "Auch Investitionsgüter und der Konsum im Inland werden anziehen, weil die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes schwindet", sagte Nerb.

"Etwas vorsichtig geschätzt"

"Etwas vorsichtig geschätzt"

Die letzte Prognose des Ifo-Instituts für das Gesamtjahr lag bei 2,1 Prozent. "Das ist mittlerweile wahrscheinlich etwas vorsichtig geschätzt", sagte der Ifo-Volkswirt. Die Konjunkturforscher der Commerzbank haben ihre Prognose schon vor einigen Wochen auf 2,5 Prozent angehoben. "Inzwischen geht die Tendenz aber noch weiter nach oben, es könnten also auch 0,1 oder 0,2 Prozentpunkte mehr werden", sagte Volkswirt Simon Junker.

Die Frage, wann die Wirtschaftskraft in Deutschland wieder der von 2008 entspricht, beantworteten Experten vor einem halben Jahr noch häufig mit dem Jahr 2014. "Da sind die meisten inzwischen viel optimistischer geworden, einige sagen, es könnte schon 2012 wieder so weit sein", sagte Nerb. In Deutschland sei der Aufschwung vor allem deshalb so viel stärker als bei den europäischen Nachbarn, weil die Wettbewerbsfähigkeit in den letzten Jahren deutlich zugenommen habe.

Die Lohnstückkosten sind seit 2000 kaum gestiegen, in Italien oder Frankreich haben sie sich dagegen um rund 30 Prozent erhöht. Die Nachfrage nach Krediten ist in Deutschland überraschenderweise aber sehr niedrig. "Derzeit haben die Unternehmen nur etwa 60 Prozent unserer Kreditlinien ausgeschöpft, normalerweise haben wir hier Werte zwischen 70 bis 80 Prozent", sagte Commerzbank-Vorstand Beumer. Manche warten offenbar mit Investitionen ab, viele reduzierten Lagerbestände.

Beumer sagte, die Gefahr einer Kreditklemme sei unter den derzeitigen Rahmenbedingungen "definitiv vorbei". "Wir machten uns im Frühjahr auch Sorgen, vor allem, weil Unternehmen und Verbände so besorgt waren. Denn solange die Unternehmen besorgt sind, gibt es kein Wachstum." Doch diese Sorgen hätten sich mittlerweile verflüchtigt. Sie könnten aber wieder aufkommen, wenn im November die neuen Regulierungsstandards für Banken aus Basel III feststehen. Es könnte sein, dass Banken dann ihre Kredite kürzen müssten.

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