Atomkraft und Blutkrebs:Hoffnungslose Ursachenforschung

Statistisch gesehen hätte es im Gemeindeverband Asse in den vergangenen Jahren nur fünf, nicht zwölf Leukämiefälle bei Männern geben dürfen. Einen Zusammenhang mit dem Atommüll in Asse II wird man aber kaum beweisen können.

Markus C. Schulte von Drach

Wieder einmal zeigt sich, wie wenig das Risiko radioaktiver Strahlung zu greifen ist: Zwölf Männer und sechs Frauen sind in der Samtgemeinde Asse im Zeitraum zwischen 2002 bis 2009 an Leukämie erkrankt, einer Art von Blutkrebs. Und natürlich steht schnell die Strahlung im Verdacht, die von dem radioaktiven Müll im Bergwerk Asse II ausgeht.

Keine 10.000 Bürger leben in dem Verbund von sieben Gemeinden in unmittelbarer Nähe des Höhenzugs Asse, in dem sich die gleichnamige Schachtanlage mit Atommüll befindet.

Statistisch gesehen kommt man in einer solchen Gruppe in Deutschland nur auf 5,2 Leukämiefälle bei Männern und 3,3 bei Frauen, erklärt Dorothea von Nicolai vom Gesundheitsamt in Wolfenbüttel sueddeutsche.de. In den Gemeinden um die Asse ist die Häufigkeit des Leidens dem niedersächsischen Krebsregister zufolge bei Männern demnach mehr als doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, bei Frauen immerhin fast doppelt so hoch. Signifikant ist der Unterschied allerdings nur für die Männer. Darüber hinaus hat sich die Zahl von Frauen, die an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind, verdreifacht, wie aus der noch nicht veröffentlichten Statistik des niedersächsischen Krebsregisters hervorgeht.

Da liegt es nahe, einen Zusammenhang mit dem radioaktiven Abfall zu vermuten, der seit Jahren in dem ehemaligen Salzbergwerk in Niedersachsen teilweise völlig unsachgemäß gelagert wird. Die Ärzteorganisation IPPNW etwa betrachtet die Zahlen als einen weiteren "Beleg für den ursächlichen Zusammenhang von ionisierender Strahlung und einem erhöhten Krebs- und Leukämierisiko".

Doch die erste Reaktion auf Seiten der Experten und des Betreibers der Schachtanlage, dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), ist ein verwundertes Augenreiben.

Wie die Samtgemeinde Asse feststellt, ist die "Gesamt-Krebsrate für den Landkreis Wolfenbüttel unauffällig, eher unterdurchschnittlich". Die Ursachen für die signifikant erhöhte Leukämierate bei Männern "sind derzeit nicht bekannt", sagt Landrat Jörg Röhmann (SPD). Noch seien "weder die Wohnorte, Familien- oder berufliche Situation bekannt", heißt es bei der Samtgemeinde. "Ein Zusammenhang zwischen den gehäuften Krebserkrankungen und der Asse-Thematik kann derzeit nicht hergeleitet werden."

Das BfS, dem die Daten des Krebsregisters noch nicht vorliegen, beteuert, aufgrund der Überwachungsmaßnahmen ergäben sich "keine Hinweise auf Emissionen aus dem aktuellen Betrieb der Asse, die einen Zusammenhang mit Erkrankungen in der Bevölkerung der Umgebung heute oder in der Zukunft zulassen". Erst kürzlich hätten Auswertungen von Boden- und Ackerfrüchten ergeben, "dass keine Gefahrensituation in der Umgebung der Asse vorliegt". Auch seien im vergangenen Jahr "keine erhöhten radioaktiven Belastungen des Bodens, der Luft, des Wassers und landwirtschaftlicher Produkte sowie von Nadeln und Laub festgestellt worden".

Die Ursachen der Leukämie bei den Betroffenen dürften natürlich in der Vergangenheit liegen - vor 2009, als das BfS umfassende Strahlenschutz- und Überwachungsmaßnahmen eingerichtet hat. Doch gemessen wurde die Radioaktivität auch zuvor - ohne Auffälligkeiten, sagt Dorothea von Nicolai vom Gesundheitsamt in Wolfenbüttel.

Viele Studien - unklare Ergebnisse

In der Schachtanlage Asse II wurden in den vergangenen Jahrzehnten rund 126.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen eingelagert - unter katastrophalen Umständen. Doch die Konsequenzen betreffen - soweit bekannt - nur das Bergwerk selbst. Im Salzstock tief unter der Erde tritt radioaktiv verseuchte Salzlauge aus. Die gemessenen Strahlendosen in der Umgebung der Schachtanlage lagen deutlich unter den Grenzwerten der Strahlenschutzverordnung.

Eine Expertengruppe soll nun den möglichen Zusammenhang zwischen den Krebsfällen und Asse II überprüfen. Was dabei herauskommen wird, lässt sich womöglich aufgrund der bisherigen Erfahrungen vorsichtig prognostizieren: Nicht viel. Etliche Studien gibt es bereits zu einem möglichen Zusammenhang zwischen der Strahlung, die von Kernkraftwerken ausgeht, und der Häufigkeit von Krebs in der Bevölkerung. Ein kausaler Zusammenhang wurde noch nie bewiesen oder die betreffenden Studien wurden als mangelhaft kritisiert.

So hatten Experten des Deutschen Krebsregisters in Mainz 2007 festgestellt, dass das Leukämie-Risiko für Kinder bis zu vier Jahren zunimmt, je näher ihr Wohnort an einem Atomkraftwerk liegt. Im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren waren in den Jahren 1980 bis 2003 insgesamt 37 Kinder an Leukämie erkrankt. "Im statistischen Durchschnitt wären 17 Fälle zu erwarten gewesen", stellten die Wissenschaftler fest. "Etwa 20 Neuerkrankungen sind also allein auf das Wohnen in diesem Umkreis zurückzuführen."

Doch was nun genau die Ursache war, blieb den Forschern verborgen. Mehr noch: Sie erklärten, die radioaktive Strahlung scheide als Ursache für die höhere Krebsrate aus. Ein Expertengremium des Bundesamtes für Strahlenschutz, welches die Studie noch einmal überprüfte, kam zu einem etwas vorsichtigeren Schluss. So erklärte der Präsident des Amtes, Wolfram König, es gebe Hinweise auf Zusammenhänge, aber keine Beweise. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den erhöhten Leukämie-Erkrankungen und den tatsächlichen radioaktiven Emissionen aus den Reaktoren allein könne "derzeit nicht nachgewiesen werden".

Häufungen von Krebs kommen immer wieder vor - natürlich wird in der Umgebung von Strahlenquellen wie Kernkraftwerken oder Handymasten besonders stark darauf geachtet. Die Ursachen können tatsächlich völlig andere sein als Radioaktivität. Im Verdacht stehen zum Beispiel Pestizide oder Infektionskrankheiten.

Vielleicht sollte in Erwägung gezogen werden, dass über die Wirkung der Radioaktivität noch immer zu wenig bekannt ist, und man sich deshalb nicht auf die bestehenden Grenzwerte verlassen kann. Dem beunruhigten Verbraucher bleibt derzeit allerdings nichts anderes übrig, als auf die Ergebnisse der Expertenkommission zu warten und zu hoffen, dass deren Untersuchung diesmal zu eindeutigen Ergebnissen führt.

Gleiches gilt für jene Studien, die das Bundesamt für Strahlenschutz derzeit mit Forschungsgeldern unterstützt, um - endlich - den Ursachen der kindlichen Leukämie auf die Spur zu kommen.

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