Atommüll:"So verseuchte Plätze findet man sonst nirgendwo auf der Welt"

Murmansk region, russia, september 08, 2006, the decommissioned nuclear-powered submarine k-60 with a reactor aboard is transported on the dockwise (dutch heavy lift shipping company) semi-submersible vessel transshelf from the gremikha naval base to

Atom-U-Boot a. D.: Vor Jahren bereits wurden die Reaktoren von ausgemusterten nuklearbetriebenen Kriegsschiffen wie diesem ausgebaut und an Land gelagert.

(Foto: Universal Images Group/Getty Images)

Seit Jahrzehnten strahlt im Norden Russlands der Atommüll der Nordmeerflotte. Nun beginnt das große Reinemachen. Die nukleare Bedrohung wird damit verringert - aber nicht gebannt.

Von Julian Hans

Wenn die Sowjetunion im Kalten Krieg etwas vor den Augen der Welt verstecken wollte, dann tat sie es hier. Jenseits des Polarkreises, in den Falten der Barentssee-Küste, ringsum graue Felsen, schwarzes Wasser unter einem grauen Himmel. Flechten, Moos und gewundene Birkenbüsche überziehen das Land wie ein Tarnnetz. Sogar Tag und Nacht sind nicht zu unterscheiden, auf ein halbes Jahr Finsternis folgt ein halbes Jahr diesiges Licht.

Als die Kapelle des Oberkommandos der Nordflotte den "Abschied der Slawin" spielt, setzt leichter Regen ein. Diesmal hat Russland die halbe Welt an diesen abgelegenen Ort eingeladen. Der norwegische Außenminister, deutsche und britische Experten für Reaktorsicherheit, die Spitze der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) sowie der Chef des staatlichen Atomkonzerns Rosatom stehen an diesem Dienstag in Nieselregen und Dieselqualm, um mit Festreden und Marschmusik das Spezialschiff Rossita auf seine erste Reise schicken. An Bord sind neun Behälter mit hochradioaktivem Müll.

Es ist kein politisches Tauwetter und keine neue Offenheit, die bewirkt haben, dass über der Mole neben der russischen Flagge auch die Fahnen von Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Großbritannien und der Europäischen Union wehen. Es war eine drohende Katastrophe. Mehr als 35 Jahre lang hat die sowjetische Nordmeerflotte verbrauchte Brennelemente aus ihren Atom-U-Booten in der Andrejewa Bucht an der Halbinsel Kola gelagert. Von dort sind es nur etwas mehr als hundert Seemeilen bis in die Gewässer, in denen die norwegische Fischereiflotte ihre Netze auswirft.

Sechs Jahre lang werden Castor-Behälter 3000 Kilometer weit durch Russland rollen

Ein Zwischenfall wie 1982 darf sich nie wiederholen. Damals bekam eines der Lagerhäuser Risse, Hunderte Tonnen stark radioaktiven Wassers versickerten im Erdreich. Eilig wurden provisorische Becken errichtet und die Brennelemente umgeladen. 1992 wurde die Deponie geschlossen, aber die Provisorien wurden nie ersetzt.

Auf Fotos kann man sehen, wie es hier noch vor einigen Jahren aussah: Drei runde Becken unter freiem Himmel, etwa zwanzig Meter Durchmesser, abgedeckt mit dünnem Blech. Mit den kleinen Leitern an der Seite könnte man sie für Schwimmbecken halten, wie sie hinter deutschen Reihenhäusern im Garten überwintern. Wären da nicht die rostenden Kräne und die zerfallenden Gebäude, der Stacheldraht und die gelben Schilder: Achtung, Radioaktivität! 22 000 abgebrannte Brennelemente mit hochangereichertem Uran aus mehr als Hundert Reaktoren sowjetischer Atom-U-Boote lagern hier in Spezialbehältern, viele sind beschädigt.

Dass jetzt eine Halle um die Deponie gebaut wurde, ein Verladeterminal und das Spezialschiff zum Abtransport der strahlenden Fracht, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit der Anrainerstaaten von Barentssee und Ostsee. Auf Initiative der Northern Dimension Environmental Partnership (NDEP) wurde 2002 gemeinsam mit Russland ein Plan entwickelt, um den Atommüll zu sichern und zu bergen. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat einen Fonds mit 165 Millionen Euro aufgelegt, um das Projekt zu finanzieren.

Neben den Staaten im Norden haben Großbritannien und Kanada eingezahlt, Deutschland steuerte zehn Millionen Euro bei. Dazu kommen bilaterale Engagements: Norwegen baute die Straße zur Deponie, einen neuen Anleger und eine Dekontaminierungsanlage. Großbritannien finanzierte die Anlage zur Bergung der verbrauchten Brennelemente, Italien baute das Spezialschiff Rossita, die Schweden förderten eine Anlage zur Sicherung von flüssigem und festem Atommüll. Russland ist verantwortlich für den Betrieb der Anlage und die Aufbereitung der Brennstäbe.

Die Bergung des strahlenden Mülls geschieht nun ferngesteuert. Die Schaltzentrale ist durch zwei kleine Fenster mit der Halle verbunden, die um die Becken errichtet wurde. Auf großen Monitoren verfolgen die Ingenieure, wie ein Spezialkran einen leeren Castor-Behälter in eine Öffnung im Boden versenkt. In sieben getrennte Kapseln werden je sieben Brennstäbe gefüllt, dann wird der Behälter versiegelt.

Die 40 Tonnen schweren Castoren lagern so lange in einer Nachbarhalle, bis sie auf die Rossita verladen werden können. Das Schiff bringt sie bis ins hundert Seemeilen entfernte Murmansk. Von dort geht es auf Schienen weiter in die Aufbereitungsanlage in Majak bei Tscheljabinsk am Süd-Ural. Sechs Jahre wird es dauern, so schätzen die Ingenieure, bis das letzte Brennelement verschifft ist. So lange werden alle zwei Monate Castor-Transporte fast 3000 Kilometer quer durch Russland rollen.

Der Ingenieur, der das Problem öffentlich bekannt machte, bekam fünf Jahre Gefängnis

Atommüll: SZ-Karte

SZ-Karte

Die nukleare Bedrohung für die Barentssee wird auf diese Weise stark verringert. Verschwunden ist sie damit aber noch nicht. In der Nerpa-Werft auf der Kola-Halbinsel wartet die Lepse seit Jahren auf die Entsorgung. An Bord des ehemaligen Versorgungsschiffs der Eisbrecher-Flotte lagern noch einmal mehr als 600 Brennelemente. Ein weiteres von der Europäischen Union gefördertes Programm soll im kommenden Jahr die ersten Castoren von dort abtransportieren. 2006 hatte die Bundesregierung auf eine Initiative der G-8-Staaten 600 Millionen Euro freigegeben, mit denen die Nerpa-Werft modernisiert und mehr als Hundert ausgemusterte Atom-U-Boote abgewrackt wurden, die im flachen Wasser vor der Küste dümpelten. Die Reaktoren wurden herausgetrennt und versiegelt und in einem eigens errichteten Lager am Ufer aufgereiht.

Auch in der Andrejewa Bucht gibt es noch ein ungelöstes Problem. Hinter den eindrucksvollen neuen Hallen steht ein rot angestrichener Backsteinbau. Es ist das Gebäude Nummer 5, das im Jahr 1982 Risse bekommen hatte. Eine Handvoll Brennstäbe sollen dort noch im Schlamm stecken. Das Gelände ist so stark kontaminiert, dass es nur mit Roboterkameras untersucht werden kann. "So verseuchte Plätze findet man sonst nirgendwo auf der Welt", sagt ein Experte der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz fast ehrfürchtig.

Doch sei die Situation heute weit weniger furchterregend als noch vor zehn Jahren, betont Vince Novak, oberster Spezialist für nukleare Sicherheit bei der EBRD. Natürlich könne man die Frage stellen, warum Europa so viel Geld für die Entsorgung des strahlenden Erbes der Sowjetunion aufbringe, während Russland gleichzeitig wieder viel Geld in neue Rüstung stecke. Manche Angehörigen der deutschen Delegation sprechen gar von "Schizophrenie". Aber es gehe nicht um Altruismus, entgegnet Novak: "Nukleare Verschmutzung kennt keine Grenzen". Die Bergung des strahlenden Gifts ist eine Investition aller Beteiligten in die eigene Sicherheit - eine ähnliche Sichtweise wie in Sachen Tschernobyl, wo ebenfalls die EBRD engagiert ist.

Alle Beteiligten am Nordmeer sind erleichtert, dass das Projekt trotz der neuen Spannungen zwischen der Regierung in Moskau und dem Westen zu Ende gebracht wurde. Wegen der Annexion der Krim und dem aus Russland geschürten Krieg gegen die Ukraine legt die Europäische Aufbaubank seit Juli 2014 keine neuen Förderprogramme für Russland mehr auf. Im Mai wetterte Russlands Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin, die EBRD sei nicht länger ein Institut zur Förderung von Entwicklung, sondern ein "außenpolitisches Instrument". Die Finanzierung der Anlage in der Andrejewa Bucht hat indes niemand infrage gestellt. Pierre Heilbronn, Vize-Präsident der EBRD, sagte am Dienstag in der Andrejewa Bucht: "Es ist besonders erfreulich zu sehen, dass Staaten ihre Meinungsverschiedenheiten beiseitelassen, um ein so wichtiges Problem wie die Hinterlassenschaften der Atom-Flotte zu lösen."

Als am Dienstag das Schiff mit den ersten Castoren die Andrejewa Bucht verlässt, steht auch ein Mann mit langem, schlohweißem Haar bei den Ehrengästen. Alexander Nikitin, heute 65 Jahre alt, war Ingenieur der Nordmeer-Flotte und später Leiter der Abteilung für nukleare Sicherheit. Er ist der Mann, der einst alles ins Rollen gebracht hat. Nach seiner Verabschiedung aus dem Dienst berichtete er 1994 in einem Artikel über die Gefahren für die Umwelt durch die strahlenden Hinterlassenschaften aus dem Kalten Krieg und engagierte sich in der norwegischen Umweltorganisation Bellona. Als der Geheimdienst FSB ihn 1995 wegen Geheimnisverrats anklagte, machte der Prozess die Gefahren in der Barentssee weltbekannt. Nach fünf Jahren in Haft sprach ihn das Oberste Gericht schließlich in allen Punkten frei.

Russland erklärte die Ableger von Bellona in Murmansk und Sankt Petersburg 2014 und 2016 zu "ausländischen Agenten", weil sie Geld von ihren norwegischen Partnern erhielten und sich nach Auffassung des Justizministeriums politisch engagierten. Die einstigen Kollegen von der Nordmeerflotte haben Alexander Nikitin trotzdem eingeladen. Er sitzt inzwischen im Beirat von Rosatom.

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