Dioxin:"Das Zeug gehört nicht in den Körper"

In aller Munde: Dioxin ist ein ständiger Begleiter, ob wir wollen oder nicht. Denn dioxinfreie Nahrungsmittel gibt es nicht. Trotz Grenzwerten bleibt unklar, wie gefährlich das ist.

Katrin Blawat

Paracelsus hat es sich einfach gemacht. Eine einzige Phrase aus seiner Feder genügte, um eine Diskussion, welche Stoffe wie giftig sind, gar nicht erst aufkommen zu lassen. "All Ding sind Gift und nichts ohn Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist", schrieb der Arzt. 500 Jahre hat sich an dieser Weisheit im Kern zwar nichts geändert. Doch die Sache ist ungleich komplizierter geworden, wie die aktuelle Aufregung um erhöhte Dioxinwerte in Futter- und Lebensmitteln zeigt.

Landeslabor untersucht Proben

Unter anderem im Landeslabor Berlin-Brandenburg (Frankfurt-Oder) werden Proben zur Ermittlung einer eventuellen Dioxin-Belastung in Eiern und Fleisch analysiert. Unterhalb von Grenzwerten ist das Gift aber ein ständiger Begleiter.

(Foto: dpa)

Seitenlange Verordnungen legen innerhalb der Europäischen Union fest, wie viel Dioxin Lebens- und Futtermittel enthalten dürfen. Eier zum Beispiel dürfen nicht mehr als drei Picogramm Dioxin pro Gramm Fett enthalten; der gleiche Wert gilt für Milchprodukte. Ein Picogramm entspricht dem billionsten Teil eines Gramms; nur mit Spezialgeräten lassen sich diese winzigen Mengen feststellen. Die im aktuellen Fall stark belasteten Eier enthielten zwölf Picogramm Dioxin, der erlaubte Wert wurde also um das Vierfache überschritten. Die oft genannte Zahl der 78-fachen Überschreitung bezieht sich hingegen nicht auf die Belastung der Eier, sondern auf die der Fettsäuren im Tierfutter.

Für Geflügelfleisch liegt die Höchstmenge bei zwei, für Schweinefleisch bei einem Picogramm Dioxin pro Gramm Fett. Das in Niedersachsen entdeckte belastete Schweinefleisch enthielt 1,5 Picogramm, übertraf den erlaubten Wert also um 50 Prozent. Das Muskelfleisch der meisten Fische darf sogar vier Picogramm Dioxin aufweisen.

Ist Dioxin im Fisch also weniger giftig als in Eiern oder Schweinefleisch? Nein. Ganz im Sinne Paracelsus beeinflusst die Dosis, wie verheerend sich das Gift im Körper auswirkt. Akute Schäden, deren sichtbarstes Zeichen die Chlorakne ist, treten nicht durch belastete Lebensmittel auf, sondern nur bei Unfällen oder Anschlägen. In den meisten Fällen beruht die Gefährlichkeit des Dioxins auf einer langfristigen Wirkung. Das Gift sammelt sich im Fettgewebe an. In Tierversuchen verursacht es Hormon- und Entwicklungsstörungen sowie Krebs. In welchem Ausmaß dies für Menschen gilt, diskutieren Experten noch.

Gewissheit über Grenzwerte ist kaum zu erreichen

Zusätzlich kompliziert wird die Sache dadurch, dass der Begriff Dioxin eine Gruppe von etwa 200 verschiedenen Substanzen umfasst. Deren chemischer Aufbau ähnelt sich zwar. Doch kleine Unterschiede machen die einzelnen Mitglieder der Dioxin-Gruppe unterschiedlich toxisch. Am gefährlichsten ist das sogenannte Seveso-Gift, ein Dioxin, das 1976 während eines Chemieunfalls in Italien frei wurde. Zudem gibt es eine weitere Gruppe Chemikalien, die Dioxin-ähnlichen Polychlorierten Biphenyle (dl-PCB), die sich im Körper wie Dioxine verhalten. Im aktuellen Lebensmittelskandal handelt es sich um einen noch nicht identifizierten Dioxintyp - mit Sicherheit nicht um das Seveso-Gift.

Die unterschiedlichen Höchstmengen für die verschiedenen Lebensmittel zeigen, was man sich als Verbraucher von den EU-Werten nicht erhoffen darf: Gewissheit darüber, dass Lebensmittel unbedenklich sind, solange ihre Dioxin-Belastung unter dem jeweiligen Wert liegt. "Die von der EU festgelegten Höchstmengen haben keine toxikologische Grundlage", sagt Jürgen Thier-Kundke vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). "Es sind pragmatische Werte", sagt die Biologin Marianne Rappolder vom Umweltbundesamt (Uba).

Denn auch ohne aktuellen Skandal weisen Lebensmittel unvermeidbar eine sogenannte Hintergrundbelastung auf. Sie liegt bei Fischen, vor allem den fettreichen, besonders hoch. Verbraucherschutz-Organisationen kritisieren, dass sich die EU bei der Festlegung der Höchstmengen vor allem an wirtschaftlichen Interessen orientiere und dass für Produkte einfach neue Vorgaben erstellt würden, wenn sich alte als handelsfeindlich erwiesen hätten. Vor drei Jahren erhöhte die EU die erlaubte Höchstmenge für Fischleber - ein stark belastetes Produkt - von acht auf 25 Picogramm pro Gramm.

Wozu aber braucht es überhaupt Höchstmengen, wenn sie nichts über das Gesundheitsrisiko für den Verbraucher aussagen? "Dioxinbelastungen, die über der Höchstmenge liegen, lassen sich vermeiden - Werte darunter hingegen nicht", sagt Helmut Schafft, Leiter der Abteilung Futtermittelsicherheit am BfR. Einer Untersuchung des BfR zufolge überschritten im Zeitraum 2006 bis 2008 sechs Prozent aller getesteten Eier, knapp fünf Prozent des Rindfleisches und gut ein Prozent der Milchproben die erlaubten Höchstmengen. "Wir können keine Nahrungsmittel produzieren, die dioxinfrei sind", sagt Schafft.

Woher das Dioxin kommt

Grund dafür sind vor allem Umweltsünden, die oft mehr als 20 Jahre zurück liegen. Dioxine besitzen Chloratome, die das Gift extrem stabil machen; auch löst es sich nicht in Wasser auf. "Wenn Dioxin einmal in den Boden eingedrungen ist, dauert es 50 bis 100 Jahre, bis die Hälfte davon wieder verschwunden ist", sagt Uba-Expertin Rappolder. Vor allem Böden sowie Fluss- und Meeres-Sedimente speichern viel Dioxin. Je mehr organisches Material wie Humus es auf einem Boden gibt, umso länger hält sich das Gift dort in den oberen Schichten. "Die höchsten Konzentrationen finden wir auf Waldböden. In Ackerböden, die regelmäßig gepflügt werden, messen wir viel niedrigere Werte", sagt Rappolder.

Ein Großteil des Dioxins, das noch heute die Böden belastet, gelangte vor 20 Jahren oder früher in die Umwelt, vor allem aus Unkrautgiften sowie den Emissionen von Müllverbrennungsanlagen und der Metallgewinnung. 1990 entwichen noch 1,2 Kilogramm Dioxin in die Luft. Im selben Jahr traten neue Gesetze in Kraft, um die Emissionen zu senken - und 2005 belasteten nur noch 70 Gramm des Giftes die Luft. Vor allem die Müllverbrennungsanlagen haben sich vom Ruf der Super-Verschmutzer befreit. 1990 setzte das Abfackeln von sechs Millionen Tonnen Abfall noch fast 300 Gramm Dioxin frei, heute ist es weniger als ein Tausendstel dieses Wertes - obwohl sich die Müllmenge verdoppelt hat.

Verbreitung über Luftpartikel

Außer an der Metallindustrie, die laut einer Messung von 2004 noch 55 Gramm pro Jahr beisteuert, liegt es heute vor allem an den zunehmend beliebten Holzöfen und Kaminen in Privathaushalten (22 Gramm), dass weiter Dioxine in die Luft gepustet werden. "Diese Quellen sind nicht reglementiert und schwer einzuschätzen", sagt Marianne Rappolder. Auch wenn man seinen Kamin mit bestem Brennholz befeuert, entstehen Dioxine - ungleich mehr jedoch, wenn die Flammen lackiertes Holz, Gartenabfälle oder anderes ungeeignetes Material vernichten sollen.

Wie das Schweizer Bundesamt für Umwelt schätzt, belastet das wilde Verbrennen von einem Kilogramm Müll die Umwelt so stark wie die Entsorgung von zehn Tonnen Abfall in einer modernen Anlage. Daneben stellen Waldbrände und Vulkanausbrüche natürliche und unvermeidbare Dioxin-Quellen dar. Typischerweise liegt die Dioxin-Belastung im Winter über der im Sommer.

Das Gift verbreitet sich über Asche- und andere Luftpartikel, bis es entweder in den Boden eindringt oder sich mit Bodenteilchen auf Pflanzen legt - auch auf Obst und Gemüse. Über pflanzliche Produkte nehmen Menschen jedoch nur geringe Mengen Dioxin zu sich. Die entscheidende Rolle spielen Milchprodukte (vor allem das in vielen Nahrungsmitteln verarbeitete Milchfett sowie bei Säuglingen die Muttermilch), zudem Fleisch-, Fisch- und Eierprodukte - in der genannten Reihenfolge. Zu diesem Ergebnis kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie des BfR, in dem die Autoren sowohl die Essgewohnheiten der Deutschen als auch die durchschnittlichen Belastungen verschiedener Lebensmittel berücksichtigten.

Nutztiere erhalten zum einen belastetes Futter, zum anderen nehmen sie Dioxin-behaftete Bodenpartikel beim Weiden oder Picken auf. Aus diesem Grund weisen Produkte von Freiland-Hühnern oft höhere Werte auf als die von Käfig-Geflügel. Die Dioxinmengen, die ein Mensch auf anderem Wege als über die Nahrung aufnimmt, sind vernachlässigbar winzig.

Pro Tag nimmt ein Mensch mit normaler Ernährung in Deutschland derzeit etwa zwei Picogramm Dioxin und dl-PCB pro Kilogramm Körpergewicht zu sich - zu viel? Auf die Frage, die Verbraucher wohl am meisten interessiert, gibt es keine eindeutige Antwort. Experten sprechen von der "tolerierbaren täglichen Aufnahme" (auch Adi für Acceptable Daily Intake). Dieser Wert gibt an, wie viel Dioxin und dl-PCB ein Mensch sein gesamtes Leben lang jeden Tag aufnehmen kann, ohne damit ein erkennbares Gesundheitsrisiko einzugehen.

Die Weltgesundheitsorganisation hält bis zu vier Picogramm pro Kilogramm Körpergewicht für akzeptabel, das Uba toleriert ein Picogramm und die amerikanische Umweltschutzbehörde Epa vertritt einen Wert von nur 0,6 Picogramm pro Kilogramm Körpergewicht. "Auch diese Werte sind nicht von der Giftigkeit her abgeleitet", sagt BfR-Experte Thier-Kundke. "Sie geben nur an, was man bei einer vernünftigen Ernährung erreichen kann." Die meisten Menschen schöpfen den Adi-Wert allein über die Hintergrundbelastung der Lebensmittel aus.

Ein Beispiel in Picogramm

Angaben zu einem echten, toxikologisch begründeten Grenzwert macht das BfR zwar auch. Die sogenannte Wirkschwelle bezeichnet jene Menge Dioxin pro Gramm Körperfett, von der an mit ersten Beeinträchtigungen durch das Gift zu rechnen ist, zum Beispiel mit einer Abnahme der Spermienzahl. Die Wirkschwelle liegt bei 50 bis 200 Picogramm - nicht pro Tag, sondern bezogen auf das ganze Leben. Weil jeder Mensch verschieden auf die gleiche Giftmenge reagiert, lässt sich die Wirkschwelle nur als ungenaue Spannbreite und nicht als exakter Wert angeben.

Jürgen Thier-Kundke weiß um die Verwirrung, die all die Höchstmengen und Grenzwerte stiften. Also soll ein Beispiel zumindest etwas beruhigende Klarheit bringen. Ein 25-Jähriger hat heute eine Dioxinbelastung von etwa zehn Picogramm pro Gramm Körperfett. Ein unbedenklicher Wert, der noch weit entfernt liegt von der Wirkschwelle.

Isst dieser Mensch nun einen Monat lang täglich zwei Eier, deren Dioxingehalt zehn Picogramm beträgt (ähnliche Werte wurden in Nordrhein-Westfalen vor kurzem gemessen), steigt die Belastung in seinem Körper nach diesem Monat auf 10,24 Picogramm. "Das stellt keine Gesundheitsgefahr dar", kommentiert Thier-Kundke. Dann sagt er den wohl einzigen Satz zum Thema Dioxin, der sowohl einfach, zutreffend wie auch unumstritten ist: "Das Zeug gehört einfach nicht in den Körper."

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