Interview zur Risikoforschung:"Das Leben bleibt ein Experiment"

Der Risikoforscher Klaus Heilmann über Flugzeugunglücke, die Gefahren des Rauchens, extreme Sportarten und seinen Horror vor dem Stau auf der Autobahn. Und über die Macht der Verdrängung.

Claudia Fromme

Flugzeugunglücke, Naturkatastrophen, Viren. Jeden Tag lesen wir von neuen Risiken, ohne einschätzen zu können, wie gefährlich sie für uns sind. Klaus Heilmann, 73, erforscht seit Jahren das Risiko unseres täglichen Lebens. Er praktizierte als Arzt, war Professor der Medizin an der TU München und hat Unternehmen und Verbände in Fragen der Risikokommunikation beraten, so etwa die deutsche Energiewirtschaft nach Tschernobyl.

´Spiderman" erklimmt 283-Meter hohes Cheung Kong Centre

"Wer nichts wagt, bleibt stehen." :'Spiderman' Alain Robert, ein französischer Stuntman, klettert die Fassade des 283-Meter hohen Cheung Kong Centre in Hong Kong hinauf.

(Foto: dpa/dpaweb)

SZ: Vielleicht wäre es sicherer gewesen, wir wären zu Hause geblieben und hätten telefoniert, statt uns zu treffen.

Klaus Heilmann: Das kann man so nicht sagen. Natürlich gibt es das Risiko, über die Straße zu gehen. Die Zahl der Verkehrstoten liegt bei 4000 im Jahr. Aber zu Hause ist es auch nicht ungefährlich, vielleicht hätten Sie noch schnell etwas erledigen wollen. Die Zahl der häuslichen Unfälle, die zum Tode führen, liegt bei 7000, allein 4000 davon sind Stürze.

SZ: Wird man paranoid, wenn man so viel über die Risiken des Lebens weiß?

Heilmann: Man wird vorsichtiger - und lebt so sicherer. Unter einem Gerüst gehe ich nie hindurch. Auch fahre ich meist mit dem Zug. Ich besitze kein Auto, aber wenn ich doch mal fahre, habe ich meine Bedenken. Nicht, wenn ich allein auf der Straße bin, ich weiß, wie gut ich fahre. Aber vor der Autobahn habe ich einen Horror. Im Stau ist man den Gefahren total ausgeliefert.

SZ: Sie rauchen sicher nicht, oder?

Heilmann: Ich war Kettenraucher - und habe aufgehört, wie mein amerikanischer Kollege John Urquhart, mit dem ich nach dem Vorbild der Richterskala eine Sicherheitsskala entwickelt habe. Mit den Zahlen des Statistischen Bundesamts habe ich die Risiken unseres Lebens berechnet. Dabei habe ich die Zahl der Toten in Beziehung zu den Gefährdeten gesetzt, etwa aller Verkehrsteilnehmer. Das Risiko, innerhalb eines Jahres auf der Straße zu sterben, liegt bei 1 zu 20000. Das Risiko, an den Folgen des Rauchens zu sterben, aber bei 1 zu 250. Einer von 250 Rauchern überlebt das Jahr nicht. Es ist das höchste Risiko, dem wir uns aussetzen.

SZ: Suchen wir uns von den Risiken nur die aus, die wir sehen wollen?

Heilmann: Wir schätzen Risiken nicht rational ein, sondern emotional. Dafür gibt es viele Gründe. Raucher schätzen den Stressabbau, den Genuss. Die Gefahren werden verdrängt, so weit, dass jeder denkt, er wäre die Ausnahme und würde so alt wie Helmut Schmidt. Das funktioniert schon rein statistisch nicht. Dann ist da eine Flut an Informationen. Die Zahl der Katastrophen hat nicht zugenommen, sondern die Geschwindigkeit und Intensität, mit der wir davon erfahren. Denken Sie an den Busunfall mit zwölf Toten in Brandenburg. Die Kanzlerin kondolierte, der polnische Präsident reiste an. Dabei verunglücken täglich zwölf Menschen bei uns tödlich. Nur redet darüber keiner, weil über Einzelfälle nicht berichtet wird. Wir leben in einem sehr sicheren Land. Für manche aber ist das wieder zu sicher.

SZ: Inwiefern?

Heilmann: Wer sich zu sicher fühlt, wird leichtsinnig, sucht die Gefahr. Darum machen auch so viele extreme Sportarten. Das Risiko eines Extrembergsteigers, innerhalb eines Jahres zu sterben, liegt bei 1 zu 500 - wobei Menschen, die das nur gelegentlich machen, noch viel stärker gefährdet sind. Wir suchen immer mehr den Kick: mit Komasaufen, S-Bahnsurfen, Freeclimbing. Fahrradhelme finden viele albern. Zugleich wachsen wir zu behütet auf. Man sollte ein Kind nicht alleine auf die Straße lassen, aber es darf ruhig vom Fahrrad fallen, um zu merken, was passiert, wenn man zu schnell fährt. Nur über Angst werden wir vorsichtiger.

"Der Mensch als Schwachpunkt"

SZ: Wo lauern noch Gefahren?

Interview zur Risikoforschung: Klaus Heilmann: "Unter einem Gerüst gehe ich nie hindurch."

Klaus Heilmann: "Unter einem Gerüst gehe ich nie hindurch."

Heilmann: Wenn wir zu sehr verdrängen. Diese Eigenschaft ist sinnvoll, sonst würden wir wahnsinnig. Wir können nicht jedes Mal Todesangst haben, wenn wir über eine Brücke gehen, auch wenn immer wieder Brücken einstürzen.

Der Mensch aber ist auch der Schwachpunkt bei vielen Risiken. Tschernobyl ist passiert, weil ein Modell, das schon dutzendfach durchgespielt wurde, bis zum Ende durchgezogen wurde - die Warnlampen wurden ignoriert. Leichtsinn und Überschätzung der eigenen Fähigkeit führen zu neuen Risiken. Manche glauben, dass der ältere Pilot der bessere ist. Das ist nicht unbedingt der Fall. Große Unglücke sind mit erfahrenen Piloten passiert. Sie denken, sie haben alles im Griff, weil sie es schon so oft erlebt haben.

SZ: Nun gibt es Risiken, die ich selbst beeinflussen kann. Und die, denen ich ausgeliefert bin. Vielleicht sterbe ich an den Nebenwirkungen eines Medikaments.

Heilmann: Absolute Sicherheit wird es nie geben. Risiken können wir nicht verhindern, nur reduzieren. Wir sprechen immer nur über das Risiko, auf der anderen Seite aber stehen die Chancen. Bei Arzneimitteln ist unter Experten akzeptiert, dass das Todesrisiko bei 1 zu 10000 liegt. Manchen ist die Zahl zu hoch. Aber wie viele wären gestorben, wenn es das Medikament nicht geben würde? Ich habe ausgerechnet, was passieren würde, wenn alle Arzneimittel und Impfstoffe vom Markt genommen würden: Unsere Lebenserwartung nähme um 37 Minuten zu. Dann aber sterben wir wieder an Blutvergiftungen, an Infektionskrankheiten. Das wären 15 Jahren weniger. Ein Medikament, das keine Todesfälle hervorruft, gibt es nicht.

SZ: Der Soziologe Ulrich Beck warnt seit den 80er Jahren vor der Risikogesellschaft. Wir sind mit so vielen Risiken konfrontiert, die wir nicht kontrollieren können. Kernenergie oder Gentechnik etwa.

Heilmann: Nur wenige Promille der Todesfälle sind die Folge von Risiken, denen wir unfreiwillig ausgesetzt sind, wie Umwelteinflüsse oder etwa Pestizide in Gemüse und Obst. Beck suggeriert durch den Begriff Risikogesellschaft, dass wir in einer außerordentlich risikoreichen Zeit leben. Das ist falsch. Wir diskutieren alles auf sehr hohem Sicherheitsniveau. Ohne technischen Fortschritt kommen wir nicht aus, nicht nur zur Verbesserung der Situation, sondern auch zur Aufrechterhaltung des Status quo. Wir brauchen keine gentechnisch veränderten Lebensmittel. Aber dürfen wir das auch entscheiden für die Entwicklungsländer, in denen so Millionen Leben gerettet werden könnten?

SZ: Aber können wir die Folgen einer Technik abschätzen? Während wir reden, wird Gorleben als Endlager neu erkundet. In einem Endlager muss Atommüll eine Million Jahre gelagert werden können. Das kann heute keiner garantieren.

Heilmann: Wieder gilt es, Risiken und Chancen abzuwägen. Die Kernenergie zur Stromerzeugung zu nutzen, ist mit einem Risiko verbunden, aber im Bezug auf die CO2-Werte ist sie die beste Sache für die Umwelt. Auch Offshore-Windkraftanlagen bergen Risiken für die Umwelt.

Wenn wir riesige Solarzellen in Afrika aufbauen, ist das auch nicht ungefährlich: Die Felder könnten das Klima lokal beeinflussen. Alle fordern Null-Risiko. Aber wer will mit den Konsequenzen leben? Alle sind gegen Atomkraftwerke. Aber wer will teureren Strom zahlen? Alle reden über Schadstoffe, kaum einer schafft das Auto ab. Alle reden über die CO2-Belastung, aber alle wollen fliegen, am liebsten billig.

Eine Gesellschaft muss ein Restrisiko tragen, das hat sogar Karlsruhe festgelegt. Das Wissen in zehn Jahren wird ein ganz anderes sein als heute. Es kann sein, dass für ein Problem, das wir heute nicht überschauen können, wie das eines Endlagers, eine Lösung gefunden wird. Wir müssen kommenden Generationen auch etwas zutrauen.

"Ärzte haben gegen die Lokomotive gekämpft"

DE GAYARDON

Der Stuntman Patrick De Gayardon in seinem Fluganzug 1998 über dem Grand Canyon, USA.  Im selben Jahr stürzte der Franzose bei einem Trainingssprung auf Hawaii in den Tod.

(Foto: AP)

SZ: Aber ist es nicht fahrlässig, solche Technologien zuzulassen, wenn wir als Halbblinde durch die Welt stolpern? Ulrich Beck diagnostiziert für unsere Zeit eine "Regression in den konventionellen Fortschrittsglauben der 50er und 60er".

Heilmann: Jetzt, auf unserem hohen Stand an Sicherheit, kann man das sagen. Aber war es fahrlässig, die Lokomotive einzuführen? Ärzte haben dagegen gekämpft - die Lunge würde zerplatzen, warnten sie. 1955 haben die amerikanischen Piloten gestreikt gegen die Einführung von Düsenjets, weil sie meinten, dass die Technik gerade noch für Kampfjets reichen würde. Was haben wir uns Sorgen über das Ozonloch gemacht, 30 Jahre später wissen wir, dass es offenbar die Schmelze der Gletscher verzögert hat.

SZ: Hinterher kann man das gut sagen.

Heilmann: Ja, natürlich. Aber das Risiko müssen wir eingehen. Das ganze Leben ist und bleibt ein Experiment. Wenn wir nichts wagen, bleiben wir stehen. Wenn man alle Risiken betrachtet, denen man ausgesetzt ist, sterben über 70 Prozent von uns an Krankheiten, viele davon an Krebs. Viele sagen: Die Zahl der Krebsfälle ist angestiegen, das muss etwas mit der Umwelt zu tun haben. Es gibt aber mehr Krebstote, weil die Menschen durch den Fortschritt in der Medizin älter werden, und im Alter ist das Krebsrisiko höher.

SZ: Kann es sein, dass man sich so viele Sorgen um die Risiken des Lebens macht, dass man schon deswegen kürzer lebt?

Heilmann: So viele Sorgen machen wir uns nicht - wir reden nur sehr gern darüber. Wir sollten alles nüchtern betrachten. Wenn eine Frau, die raucht und die Pille nimmt, das Fliegen ablehnt, weil ihr das zu unsicher ist, dann ist das irrational. Das Todesrisiko beim Fliegen beträgt 1 zu 3.360.000. Das gefährlichste am Fliegen ist der Weg zum Flughafen.

Von Klaus Heilmann ist kürzlich ein Buch zum Thema erschienen:

Das Risikobarometer Wie gefährlich ist unser Leben wirklich? Heyne Verlag Paperback 240 Seiten ISBN: 978-3-453-17347-7 € 16,99

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