Jugendsexualität und Aufklärung:"Pornos zu verbieten, ist sinnlos"

Pornos sind heute fester Bestandteil der Pubertät. Doch Jugendliche beeinträchtigt das erstaunlich wenig. Nur Erwachsene schlagen zuverlässig die Alarmglocken.

Von Ulrike Heidenreich und Sebastian Herrmann

Das Feuer sollte lodern. Um die Flammen zu entfachen, marschierte die Gruppe Heranwachsender zum nahen S-Bahnhof am Stadtrand. In den Mülleimern auf dem Bahnsteig gab es bestimmt genug Papier, um damit ein Lagerfeuer anzustecken. An diesem Tag entdeckten die Kinder jedoch außergewöhnlichen Zündstoff: In einem Mülleimer lag ein Pornoheft.

Nicht nur ein Erotik-Magazin, in dem mehr oder weniger ästhetische Aktfotografien zu sehen waren. Nein, diese Bilder zeigten Paare beim Sex in allen anatomischen Details. Die Kinder verzichteten darauf, das Heft zu verfeuern und trugen es in ein Versteck, um es durchzublättern. Die Zehn- bis Zwölfjährigen gerieten an diesem Tag in einer Zeit lange vor dem Internet zum ersten Mal in ihrem Leben in Kontakt mit drastischer Pornografie. Alle waren interessiert; einige ekelten sich oder kicherten; andere waren fasziniert; ein paar fragten, was die Erwachsenen auf den Bildern da machten und warum; die aufgeklärten Kinder antworteten. Dann erinnerten sie sich an ihren Plan vom Lagerfeuer.

Die Erwachsenen entdeckten das versteckte Pornoheft bald und drehten schier durch. Schuldige wurden gesucht, über Kinder in der Gruppe diskutiert, die gewiss schlechten Einfluss auf andere, zartere Seelen ausübten. Empörung wurde geäußert, vor solchen Sauereien müssten Kinder doch geschützt werden!

Die Furcht: Jugendliche stumpfen ab

Heute stoßen Heranwachsende nicht mehr zufällig in Mülltonnen auf Sex-Magazine, Pornografie ist für sie im Internet jederzeit verfügbar. Zugleich hat die Wucht des Katastrophismus der Erwachsenen zugenommen. Bücher wie zum Beispiel "Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist" der Autoren Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher rennen mit der These offene Türen ein, wonach Teenager Liebe, Geborgenheit und Werte verlören und stattdessen wie Drogenabhängige gefühllosen, beliebigen Sex praktizierten. Selbst über Sexualkunde an Schulen erregt sich die Öffentlichkeit in Deutschland noch. In Baden-Württemberg unterzeichneten jüngst Tausende eine Online-Petition, die sich gegen Informationen über gleichgeschlechtliche Liebe im Unterricht wendete. Es wird um die Jugend gekämpft - oder besser gesagt, es wird im Namen der Jugend gekämpft.

Nur wie verhält es sich wirklich, wie entwickelt sich jugendliche Sexualität in diesem Umfeld? Kapern die Inhalte von Pornos das Gefühlsleben der Jugendlichen und verdrängen jegliche romantische Empfindung? Und wie sollte sexuelle Aufklärung darauf reagieren? Die kurze Antwort lautet: Die Angst ist groß, das Problem klein. Und ja, Jugendliche, vor allem Jungen, sehen sich Pornos an - aber offenbar hat das nur geringe Auswirkungen auf ihr Seelenleben.

Scheinbar lässt die Sexualität Heranwachsender die Öffentlichkeit zuverlässig verkrampfen. "Die zyklisch auftretenden Diskussionen über jugendsexuelle Katastrophen spiegeln eher Ängste der Erwachsenen als reale Verhältnisse bei den Jugendlichen wider", sagt Silja Matthiesen vom Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Selbst die Wissenschaft blickt durch einen seltsamen Filter auf das Thema. Die Forschung zeige ein nahezu obsessives Interesse dafür, in welchem Alter Jugendliche welche sexuellen Handlungen ausübten, schreibt zum Beispiel der amerikanische Jugendmediziner Dennis Fortenberry in einer Überblicksarbeit zu Pubertät und adoleszenter Sexualität im Fachmagazin Hormones and Behaviour. Betont würden dabei fast ausschließlich Risiken und Gefahren.

Wenn es um jugendliche Sexualität geht, bricht Panik aus

Sexualerziehung an Schulen begann vor 40 Jahren

Die SPD-Politikerin Käte Strobel stellt am 10.06.1969 in Bonn den Sexualkunde-Atlas vor - ein Meilenstein in der Aufklärungspolitik

(Foto: dpa)

Der Katastrophismus erlebt ständige Revivals. "Die Angst vor den Folgen der Onanie und die Kampagnen gegen Masturbation im 18. Jahrhundert sind Vorläufer aller moralischen Paniken zur Jugendsexualität", sagt Matthiesen. Die Inhalte mögen sich verändern, die Reflexe der Ablehnung ähneln sich. Auch als 1969 der erste "Sexualkunde-Atlas" Deutschlands erschien und an Schulen als Unterrichtsmaterial eingesetzt werden sollte, entspann sich eine panische Debatte. Das Buch bildete einen Penis ab - allerdings um die Gefahren der Syphilis zu illustrieren. Doch nicht das erzürnte die Nation. Sexuelle Vorgänge würden hier so selbstverständlich geschildert wie "das Atmen und das Naseputzen", empörte sich etwa der Präsident der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED), als die damalige Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel das Aufklärungswerk für Schulen vorstellte.

Im Atlas finden sich sperrige Beschreibungen wie: "Wenn der Mann seiner Partnerin vollen Genuss verschaffen will, muss er dazu fähig sein, durch Liebkosungen ihre Begierde zu erwecken und allmählich bis zum Verlangen nach der Gliedeinführung zu steigern." Heute klingt das, als hätten das Verwaltungsrechtler formuliert. Damals fürchtete der KED-Präsident: "Wenn die Techniken so einfach dargestellt werden, hat das fast Aufforderungscharakter: Man kann es ja mal probieren."

Mädchen interessieren die Filme kaum

Im Kern handelt es sich um das gleiche Argument, mit dem heute der Pornografiekonsum von Jugendlichen (und Erwachsenen) kritisiert wird: Die Bilder könnten den Drang wecken, die Szenen nachzustellen und die Praktiken aus den Filmen selbst auszuprobieren. Weil Hardcore-Pornografie aber sehr fragwürdige Geschlechterrollen transportiert, in vielen Filmen Gewaltphantasien visualisiert werden und auch die körperliche Ausstattung der Darsteller meist weit jenseits der Norm liegt, wäre das in der Tat ein Problem. Wie also gehen Jugendliche mit Pornos um?

Sie konsumieren sie vor allem. Wissenschaftler um Silja Matthiesen und Gunter Schmidt veröffentlichten 2011 in der Zeitschrift für Sexualforschung eine Interviewstudie mit 160 Jugendlichen, deren Ergebnis das vieler ähnlicher Untersuchungen widerspiegelt. Im Alter von 13 Jahren hatten demnach bereits 50 Prozent der Buben Erfahrungen mit Pornografie. Bei den Mädchen waren es in diesem Alter 15 Prozent. Von den 16-Jährigen hatten knapp 90 Prozent der Jungen und 63 Prozent der Mädchen Sexfilme gesehen. "In keinem Bereich des Sexualverhaltens ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern so drastisch wie bei der Inanspruchnahme pornografischer Stücke", schreiben die Forscher um Matthiesen. Mit anderen Worten: Mädchen interessieren sich kaum für Pornos, Jungen hingegen sehr stark. Etwa ein Drittel von ihnen sahen zweimal oder häufiger pro Woche solche Filme.

Das muss doch Auswirkungen haben, Fickfilme sind schließlich keine Ethikvorlesung. Tatsächlich hat die Wirkungsforschung einige Befunde zusammengetragen. Aber die Effekte sind gering und betreffen vor allem Intensivnutzer von Gewaltpornografie. Die Literatur berichtet von verminderter Lebenszufriedenheit, stärkerer Aggressionsneigung, höherer Risikobereitschaft.

Pornos als Witz und Mutprobe

Ein klarer Wirkungszusammenhang klingt plausibel, scheint jedoch nicht bewiesen zu sein: Wer einen Hang zu Gewaltpornografie zeigt, ist vielleicht ohnehin ein schwieriger Charakter. Für den Mainstream der Heranwachsenden ziehen Wissenschaftler um Lotta Löfgren-Mårtenson von der Universität Malmö in einer Studie im Journal of Sex Research ein ganz anderes Fazit: Jugendliche trennen ihr eigenes Erleben und den Inhalt von Pornografie. Auch die Online-Welt teilen Heranwachsende in zwei Welten, haben Forscher beobachtet. Jene, die sie erregend finden. Und eine abstoßende, die in Gruppen als eine Art Mutprobe angesehen wird. "Der Konsum dieser krassen Pornos ist kein sexuelles oder erotisches Ereignis, sie werden gelegentlich als spektakuläre Unterhaltung und als Witz, meistens aber als abseitige, gelegentlich auch als verstörende Erfahrung verbucht", schreibt Matthiesen. Um sich erregen zu lassen, bevorzugen Jungs hingegen das, was sie "normalen Sex" nennen. Diese Filme sollen "natürlich" und "echt" sein - sonst taugen sie nicht als Masturbationsvorlage.

Das aber sollen sie für Jungen sein, das scheint die deutlichste Konsequenz der Verfügbarkeit zu sein. "Internetpornografie ersetzt heute beinahe vollständig die früher benutzten Masturbationsvorlagen, also die Akt- oder Halbaktdarstellungen und Pin-ups, die Jungen in Zeitschriften, Magazinen, Kunstbildbänden, Modekatalogen oder Büchern fanden", schreibt Matthiesen. Früher waren es die Seiten mit der Unterwäsche im Otto-Katalog, heute sind es die Filme auf Youporn. Stumpft das die Jugendlichen nicht ab - beim Versandhauskatalog gehörte schließlich noch etwas Vorstellungskraft dazu? "Heute wie früher aber bevorzugen viele ihre Phantasie zur Anregung oder Unterstützung der Selbstbefriedigung", berichten die Forscher. Die erregenden Bilder im Kopf scheinen sich ebenfalls von den Angeboten aus dem Netz abzugrenzen. Die masturbierenden Jungen denken dabei weniger an Pornostars und deren sexuelle Akrobatik, sondern an Mädchen und Frauen aus ihrem Umfeld.

"Unvorbereitet trifft keiner auf Sexualität"

Auch Zahlen aus der letzten Studie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung passen nicht zur These einer triebgesteuerten, gefühllosen Jugend. Die meisten Jugendlichen erleben das erste Mal in einer Paarbeziehung, heute sogar eher als noch vor 30 Jahren. Auch das Alter, in dem Jugendliche das erste Mal Geschlechtsverkehr haben, liegt seit Jahren auf konstantem Niveau. Die Zahl der 14-Jährigen mit Koituserfahrungen ist über die Jahre demnach sogar minimal gesunken. Die Jugendlichen sind im Durchschnitt sehr gut aufgeklärt, sie wissen, was sie tun.

"Ganz unvorbereitet trifft kein Jugendlicher auf Sexualität", sagt der Sexualwissenschaftler Konrad Weller von der Hochschule Merseburg. Aber die Erwachsenen scheinen mehrheitlich genau das anzunehmen, und daraus speist sich die öffentliche Aufregung: Das Kind wird als asexuelles Wesen betrachtet und Aufklärung als plötzlich auftretende, einmalige Notwendigkeit angesehen, die dann ansteht, wenn die Biologie das Startsignal setzt. Das jedoch ist Unsinn. "Das Grundlage der individuellen Sexualität bildet sich bereits in der frühen Kindheit", sagt Matthiesen, die auch als Leiterin der Sexualpädagogischen Abteilung von Pro Familia in Hamburg arbeitet. Kinder wissen nicht, dass sich etwas Sexualität nennt, wenn sie sich selbst erforschen und sich etwas gut anfühlt. Sie machen es einfach. Vorlieben und sexuelle Orientierungen werden nicht an einen herangetragen - weder im Sexualkundeunterricht noch im Internet. Ihre Grundlagen entwickeln sich lange bevor Kinder erfahren, was Youporn sein könnte.

Kinder wollen viel wissen

Aufklärung beginnt deshalb im Kindergartenalter. Das mag erschreckend klingen. Doch es geht nicht darum, Dreijährigen zwischen Legosteinen und Bilderbüchern Vorträge zu halten. Es geht darum, Fragen der Kinder unverkrampft zu beantworten. "Kinder interessieren sich dafür, wenn die Mama wieder schwanger ist, und wollen wissen, wie das Baby in den Bauch gekommen ist", sagt Matthiesen. Kinder erforschen ihre Genitalien. Fassen sie an, zeigen sie her. Eltern fordert das heraus. Heutzutage debattieren sie dann im Stuhlkreis des Kindergartens darüber, ob es nicht höchste Zeit sei, die Doktorspiele der Kleinen pädagogisch aufzuarbeiten.

Statt sich nur zu sorgen, sollten Eltern lieber an einem Vertrauensverhältnis arbeiten. "Pornos zu verbieten, ist sinnlos", sagt Weller, "die Jugendlichen sollten aber wissen, dass sie zu ihren Eltern kommen können, wenn sie etwas Verstörendes gesehen haben." Frühe Aufklärung bestärke Kinder, ihre Sorgen tatsächlich zu äußern. Auch Matthiesen plädiert dafür, entspannt Fragen zu beantworten. Denn Kinder wollen viel wissen: Warum ist die Frau vorne auf der Zeitschrift nackig? Warum küssen sich die zwei Männer in der Werbung? Die Fragen von Kindern und Jugendlichen scheinen die gleichen zu sein, wie in den Zeiten vor dem Internet. Mädchen interessieren sich für die erste Regelblutung, Jungs sorgen sich über ihre Penisgröße.

Und alle wollen sie über Verliebtheit, über das Küssen und andere schöne Dinge sprechen. Das geht in der Debatte nämlich etwas unter: Sexualität besteht nicht nur aus Risiken und Nebenwirkungen, sondern vor allem aus großen Gefühlen. Statt nur die Alarmglocken zu schlagen, könnten Erwachsene das vermitteln. Wie genau? Dazu müssen sie wohl ihren Kindern zuhören.

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