Ostdeutschland:Alles ist hier möglich

Lesezeit: 3 min

Gestern noch ein brauner Mob auf den Straßen, heute Party unter Regenbogenfahnen - als Korrespondentin in Ostdeutschland erlebt man Momente der Gleichzeitigkeit. Nicht nur in einer Stadt wie Chemnitz.

Von Ulrike Nimz

Einmal im Jahr erinnert mich mein Telefon an den Rave am Karl-Marx-Kopf. An die Bässe, die in den Häuserschluchten hallten, an die tanzende Menge, die auf der Magistrale vor dem Bronzeschädel Konfetti schmiss, wenn der DJ die Regler hoch oder runter schob. Chemnitz war an jenem Abend eine Disco aus Beton, klang wie ein pochendes Herz. Ich machte Fotos, die mir nun jeden 3. September in einem digitalen Rückblick präsentiert werden, unterlegt mit sanfter Musik.

Im Spätsommer 2018 war Chemnitz Schauplatz einer Großveranstaltung mit dem Titel: "Wir sind mehr". 65 000 Menschen hatten in Baumkronen gehockt, auf Parkdecks gestanden, waren auf Straßenlaternen geklettert, um Bands wie Kraftklub und Die Toten Hosen zu sehen. Niemand hatte Lust nach Hause zu gehen. Die meisten waren hier ja auch nicht zu Hause, sondern nur angereist in diese mittelgroße, mittelspannende Stadt, die plötzlich alles sein sollte, was schief läuft in Deutschland, keine Stadt mehr, sondern ein Ereignis, ein Zustand, ein Abgrund.

Chemnitz, wo ein junger Deutscher durch Messerstiche getötet und ein junger Syrer für die Tat verurteilt wurde, wo sich Neonazis und Hooligans die Straße nahmen, als hätten sie nur darauf gewartet. Chemnitz, wo AfD-Männer mit weißer Rose im Knopfloch einen "Trauermarsch" inszenierten, Wutbürger den Kinderwagen durch die johlende Menge schoben. Wo Steine auf ein jüdisches Restaurant flogen, Journalistinnen und Menschen, die nicht deutsch genug aussahen, rennen mussten, weil der Innenminister weniger Polizisten geschickt hatte als zu einem Drittligaspiel.

In dieser Stadt also trugen sie jetzt Regenbogenfahnen spazieren und Schilder, auf denen stand: "Lieber solidarisch als solide arisch". Wo der Mob getobt hatte, tobte die Party des Jahres. Wenn mich jemand fragt, wie das so ist, im Osten des Landes zu leben und zu arbeiten, meistens sogar gern, dann sind es diese Momente der Gleichzeitigkeit, an die ich denken muss, dieses Taumeln zwischen Wow und What the fuck. Ginge es nach mir, sollten sie ein paar Touristenschilder an die Autobahnen Sachsens und Thüringens stellen, auf denen steht: "Willkommen im Osten: Alles ist möglich."

Heiter mit Aussicht auf Rassismus

Nur hier in Chemnitz können junge Männer mit Hosenträgern eine Hymne auf "Karl-Marx-Stadt" singen und dafür Platin bekommen. Nur hier in Erfurt wählen CDU und AfD gemeinsam einen Ministerpräsidenten, der Cowboystiefel und Glatze trägt, aber hoffentlich niemals politische Verantwortung. Nur hier gibt es eine Großstadtwohnung noch für sechs Euro pro Quadratmeter, aber nichts zu erben.

Nur hier erzählen einem die Taxifahrer ungefragt, was sie von Geflüchteten halten, als ginge es ums Wetter, heiter mit Aussicht auf Rassismus. Nur hier haben Bürgerinnen und Bürger friedlich ein System gestürzt. Nur hier wollen das manche noch immer. Nur hier in Sachsen möchte der Ministerpräsident den russischen Angriffskrieg "einfrieren" wie ein verschmähtes Stück Eierschecke.

Wenige Tage nach den Ausschreitungen stand Michael Kretschmer in der Loge des Chemnitzer Fußballstadions einer aufgeheizten Menge gegenüber, die von ihm wissen wollte, warum die ganze Stadt in die rechte Ecke gedrängt werde. Sachsens Landeschef rang hart um einen Minimalkonsens: "Sind wir uns einig, dass ein Hitlergruß nicht okay ist?"

Als in Chemnitz etwas aufbrach, was schon in Heidenau, Freital, Clausnitz besichtigt werden konnte, war Kretschmer gerade acht Monate im Amt. Vor ihm lag eine schwere Aufgabe: eine bräsige, vom Wähler abgestrafte CDU fit zu machen für die Landtagswahl und den Kampf gegen die AfD. Man konnte einen Mann erleben, der nicht müde wurde, von einem Freistaat "voller fröhlicher, zupackender Menschen" zu schwärmen, selbst wenn ihm gerade wieder einer "Volksverräter" ins Gesicht geplärrt hatte. Seine Partei gewann.

Inzwischen trägt Kretschmer einen strengen Bart und ist schmal geworden. Er schimpft jetzt viel auf die Grünen, obwohl die in Dresden mitregieren. Er nennt Russland einen "Nachbarn" Deutschlands, so als würden die Länder dazwischen nicht existieren. Er warnt vor einem Weihnachten im Dunkeln, vor Putins Atomwaffen. Manchmal wirkt es, als sei der Ministerpräsident selbst ein Wutbürger geworden, als habe all der Groll sich am Ende auch in ihm breitgemacht.

Neulich war ich mal wieder in Chemnitz, am 3. September. Kraftklub gab ein Heimspiel, das neue Album ist gerade erschienen. Darauf gibt es einen Song, der heißt "Vierter September" und beschreibt den emotionalen Kater nach dem Großkonzert, wenn die Innenstadt wieder leer ist, nur noch der Zweifel pocht: Ist am Ende alles umsonst gewesen? Die Band gibt sich selbst die Antwort mit der Zeile: "Vielleicht sind wir nicht mehr, aber ich bin nicht allein." Und darum geht es doch.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: