Städteplanung:Alles unter einem Dach

Schwimmbad im 13. Stock-
Dachterasse des SESC 24 de Maio,
São Paulo
© Ciro Miguel 2018

Wie passen ein Schwimmbad, eine Zahnklinik und eine Bibliothek zusammen? In Deutschland gar nicht, in São Paulo dagegen finden sie alle im 13-stöckigen SESC 24 de Maio Platz.

(Foto: © Ciro Miguel 2018)

Eine beeindruckende Ausstellung zeigt am Beispiel São Paulo, dass dicht gebaute Strukturen Menschen zusammenbringen können, mit all ihren Facetten, Splittergruppen und Alterskohorten.

Von Laura Weißmüller

Bei dem Begriff Dichte dürfte es sich um eines der Schreckgespenster dieser Tage handeln. Wobei die Analogie zum Gespenst auch deswegen ganz gut passt, weil meist nie so ganz klar wird, was sich dahinter eigentlich genau verbirgt. Die Ängste davor lassen sich besser fassen. Viele fürchten sich vor einer neuen Betonflut, falls in ihren Städten noch mehr gebaut wird. Andere haben Sorge, auf ihre geliebten Freiräume verzichten zu müssen oder denken bei dem Begriff Dichte gleich an das Horrorszenario einer Stadt, einen urbanen Moloch. Sagen wir: São Paulo.

Dass just diese Megacity, die größte Südamerikas, mit mehr als 20 Millionen Einwohnern in ihrem Großraum, vorführt, welche Kraft der Dichte doch innewohnt - wenn man sie nur zu nutzen weiß -, ja dass gerade die Dichte die Stadt sogar lebenswerter machen kann und zwar für alle, das zeigt eine erstaunliche Ausstellung im Münchner Architekturmuseum. Erstaunlich ist sie aus zwei Gründen. Erstens, weil da eine Megacity, in der 20 Prozent der Bevölkerung als arm gelten und in der es keinen Bereich gibt - egal ob Gesundheitssystem, Bildung, Wohnungsbau oder Verkehr -, der nicht unter gewaltigen Problemen leidet, einer Wohlstandsstadt wie München genauso wie fast allen westlichen Metropolen dieser Welt zeigt, wie dicht gebaute Strukturen tatsächlich Menschen zusammenbringen können und wie sich dadurch eine Stadtbevölkerung mit all ihren Facetten, Splittergruppen und Alterskohorten an einem Ort treffen kann. Das gleicht in Zeiten zunehmender Spaltung der Gesellschaft einem Wunder.

Zweitens ist die vom Direktor des Architekturmuseums Andres Lepik zusammen mit dem Kurator Daniel Talesnik erstellte Schau aber auch deswegen so erstaunlich, weil sie es schafft, Gebäude, Plätze und Straßen im fernen São Paulo für den Besucher in München erfahrbar zu machen. Bei Architekturausstellungen besteht die Krux ja meist darin, etwas erklären zu wollen, was nie da sein kann: das Gebaute und das Leben, das sich darin entwickelt oder eben auch nicht. Auf dieses Manko antwortet die Ausstellung, indem sie die Projekte aus möglichst vielen Blickwinkeln unter die Lupe nimmt. Fotos zeigen, wie die Menschen die Orte in Besitz nehmen, wie sie auf den sonntäglich gesperrten Straßen joggen und Fahrrad fahren, wie sie Karate auf der Dachterrasse eines Kulturzentrums machen, Tanzperformances auf dem Vorplatz eines Stadttheaters geben oder auf dem Platz unter dem aufgeständerten Kunstmuseum der Architektin Lina Bo Bardi demonstrieren. Videos vermitteln einen Eindruck davon, wie sich die Nutzung eines Ortes abhängig von Uhrzeit und Wochentag ändert. Auf den Lageplänen und Längsschnitten der Projekte sind stets auch ihre Nutzungen eingetragen.

Gerade für deutsche Augen ist erstaunlich, was in São Paulo alles in ein Haus passt

Und dann gibt es noch etwas, was sich hier "perspektivische Explosionszeichnung" nennt, aber vielleicht besser mit architektonischem Wimmelbild beschrieben werden kann. Als hätte ein Riese die einzelnen Bausteine auseinandergezogen, geben die Zeichnungen von Danilo Zamboni eine Ahnung davon, wie viele unterschiedliche Leben in jedem Projekt stecken. Das ist deswegen so wichtig, weil genau diese Vielzahl an sich überlagernden Nutzungen der Grund ist, warum die Orte für ganz verschiedene Besucher und über den Tag hinweg eine solche Anziehungskraft entwickeln. Und auch warum sie derart mit ihrer Umgebung verknüpft sind. Die vielen Rampen und Brücken sind Ausdruck für diesen Dialog mit der Stadt.

Gerade für deutsche Augen ist es dabei erstaunlich, was in São Paulo alles in ein Haus passt. Herrscht hierzulande ja panische Angst davor, mehrere Nutzungen unter einem Dach zu vereinen - was die allermeisten Gebäude dazu verdammt, viele Stunden des Tages nutzlos in der Gegend herumzustehen, ein Luxus, den man sich heute eigentlich nicht mehr leisten kann - lautet der Arbeitsauftrag in São Paulo: Multitasking und zwar so viel wie möglich!

Etwa beim SESC 24 de Maio mitten im Büroviertel São Paulos. Seit 2017 gibt es dort Ausstellungsräume, eine Bibliothek, Platz für Sport, Tanz und Theater, aber eben auch eine öffentliche Kantine und eine Zahnklinik. Das alles wird von einem Schwimmbad auf der Dachterrasse gekrönt. Pools in luftiger Höhe sind keine Erfindung des brasilianischen Stararchitekten Paulo Mendes da Rocha, der mit dem Büro MMBB Arquitetos das ehemalige Kaufhaus für den Serviço Social do Comércio (SESC), den Sozialdienst der Handelskammer zum Treffpunkt für täglich Tausende umgebaut hat. Doch gewöhnlich sind sie einer zahlungskräftigen Elite vorbehalten (mal abgesehen von Harry Glücks genialen Terrassenhäusern in Wien). "Das eine darf es geben", sagt Lepik in Bezug auf die Luxuspools. "Das andere muss es aber auch geben, damit die Stadtgesellschaft nicht das Gefühl hat, ausgeschlossen zu werden." Lepik plädiert zudem dafür, das Potenzial alter Gebäude zu erkennen und sie für heutige Nutzungen umzubauen, statt immer nur die Abrissbirne zu schwingen, um neuen Prestigebauten Platz zu machen.

Offen bleibt, wie es mit den Gemeinschaftsprojekten unter der Regierung Bolsonaro weitergeht

"Alle Projekte sind das Gegenteil von Bilbao", sagt denn auch Talesnik. In der baskischen Hafenstadt hat der funkelnde Guggenheimbau von Frank Gehry eine Tourismusmaschine in Gang gebracht. In São Paulo dagegen stünden alle vorgestellten Projekte, egal ob es sich um Kulturzentren, Schulen, Museen oder dem Theater handelt, im "Dienst der Gesellschaft". Etwa Minhocão, eine 2,3 Kilometer lange, aufgeständerte Stadtautobahn, die jeden Samstagnachmittag und den gesamten Sonntag für Autos gesperrt ist. Der Vergleich zur New Yorker High Line liegt nahe, doch was dort mit strikten Regeln belegt ist - kein Fahrrad, kein Alkohol und nach 22 Uhr sowieso gar nichts mehr - und einen monströsen Hypergentrifizierungsprozess in Gang gesetzt hat, besitzt in São Paulo den Charakter eines Parks für Einheimische, wie Talesnik schreibt. Das ist dringend nötig in einer Stadt, die so gut wie keine Grünflächen kennt, aber auch eine Maßnahme, an der sich verkehrsgeplagte deutsche Städte ein Beispiel nehmen können. Und nein, damit ist nicht der Tag im Jahr gemeint, wo Fressbuden aufgestellt werden.

Erstaunlich an den Beispielen aus São Paulo ist schließlich ihre Kontinuität. Seit den Fünfzigern entstanden solche sozialen Kondensatoren, angefangen, quasi als Blaupause für all das, was folgen sollte, mit Oscar Niemeyers Park Ibirapuera's Marquise, eigentlich nur ein mondän geschwungenes Dach, unter dem alles möglich ist.

Was zu der Frage führt, ob unter dem neuen Staatschef Jair Bolsonaro, der gnadenlos gegen Minderheiten und sozial Schwache vorgeht, solche Orte der Gemeinschaft überhaupt noch möglich sind. Seine Regierung will das Budget für Bildung und Kultur radikal kürzen. Diesen Freitag findet in Brasilien ein Generalstreik gegen Bolsonaros Politik statt. "Bisher haben die Gebäude die Fähigkeit, die Gesellschaft zu vereinen", sagt Talesnik. Wie sie das schaffen, lässt sich in München studieren.

Zugang für alle. São Paulos soziale Infrastruktur, Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. Bis 8. September. Infos: www. architekturmuseum.de

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