Prozess in Berlin:Warum ein Mädchen nicht im Knabenchor singen darf

Der Theologe Christian Staeblein ist am Samstag (16.11.2019) mit einem Festgottesdienst in der Berliner Marienkirche in

Der Staats- und Domchor Berlin bei einem Auftritt. Wer hier einen Platz bekommt, dem stehen alle großen Bühnen offen.

(Foto: Christian Ditsch/imago/epd)

Der Staats- und Domchor Berlin wolle aus Prinzip keine Mädchen aufnehmen, glaubt eine Mutter - und klagt. Nun hat sie das zweite Mal vor Gericht verloren.

Von Verena Mayer, Berlin

Der Staats- und Domchor Berlin ist die älteste musikalische Einrichtung Berlins, dessen Ursprünge ins 15. Jahrhundert zurückreichen. Er tritt regelmäßig in Opernhäusern oder in der Berliner Philharmonie auf, räumt Preise bei Gesangswettbewerben ab. Wer hier einen Platz bekommt, dem stehen nicht nur alle großen Bühnen offen, sondern der bekommt auch eine Gesangsausbildung, die ihresgleichen sucht. Dementsprechend groß ist der Andrang, und dementsprechend schwer ist es, hier angenommen zu werden. Für manche ist das allerdings besonders schwer: Mädchen nämlich. Der Staats- und Domchor Berlin ist ein reiner Knabenchor.

Das allerdings will die Rechtsanwältin Susann Bräcklein nicht hinnehmen. Sie hat eine elfjährige Tochter, die seit vielen Jahren singt, musiziert und Stimmbildung erhält. Das Mädchen war an der Domsingschule in Frankfurt, derzeit singt es im Chor der Komischen Oper in Berlin. 2016 las das Mädchen in einem Flyer vom Staats- und Domchor Berlin, und weil es alte Musik mag, wollte es sich dort bewerben. Die Mutter schrieb dem Dekan der Berliner Musikfakultät der Universität der Künste (UdK), die den Chor betreibt, eine E-Mail und erhielt zur Antwort: "Ihr Wunsch ist aussichtslos. Niemals kann ein Mädchen in einem Knabenchor mitsingen. Genauso wie eine Klarinette nicht in einem Streichquartett spielen kann."

Bräcklein fand das diskriminierend und verklagte die Universität. Diese lud daraufhin das Mädchen zum Vorsingen ein und lehnte es ab. Im Gutachten hieß es, das Mädchen habe ihr Lied "Es geht über den Main" zwar "intonationssicher und klangschön" vorgetragen und auch gut auf Anweisungen der Stimmbildnerin reagiert. Doch sei sie eine Quereinsteigerin, nicht ausreichend motiviert, zudem sei das Vertrauensverhältnis zur Mutter gestört, eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern sei aber eine Voraussetzung für eine so anspruchsvolle Ausbildung.

Die Mutter glaubt, der Chor wolle aus Prinzip keine Mädchen aufnehmen

Susann Bräcklein sieht das als vorgeschobene Begründung. Das Problem sei nicht die Motivation ihrer Tochter, sondern ein strukturelles: Der Chor wolle aus Prinzip keine Mädchen aufnehmen. In der ersten Instanz vor dem Berliner Verwaltungsgericht war dann viel von Knabenchorklang die Rede und darüber, was diesen so besonders macht.

Die Debatte darüber läuft schon einige Jahre. Die einen sehen in Knabenchören eine Tradition, die es zu bewahren gelte, oder argumentieren mit der Biologie: der Gesang von Jungen sei nun einmal ein anderer, weshalb bestimmte Musik am besten von Jungen gesungen werden solle. Die anderen halten Knabenchöre für einen Anachronismus, der auf den Apostel Paulus zurückgeht, der einmal meinte, Frauen hätten in der Gemeinde nichts zu sagen. Tatsache ist jedenfalls, dass selbst traditionsreiche Chöre inzwischen Schwierigkeiten haben, guten Nachwuchs zu finden, und sich daher berühmte Institutionen längst beiden Geschlechtern geöffnet haben. Bei den Wiener Sängerknaben gibt es eine Ausbildung für Mädchen und einen Mädchenchor. In England nehmen die traditionellen Kirchenchöre auch Sängerinnen auf.

Der Chorleiter des Staats- und Domchors argumentierte im Gerichtsverfahren 2019 dann vor allem mit einem bestimmten Klang. Den könnten zwar prinzipiell auch Mädchen erreichen, und er würde auch jedes Mädchen mit einer Knabenchorstimme sofort nehmen, man sei schließlich in Berlin, einer pluralistischen Stadt, in der "das biologische Geschlecht keinen Ausschlag gibt". Doch was die Tochter von Susann Bräcklein betrifft, hätte er auch keinen Jungen mit dieser Stimme genommen. Das Gericht hatte dann zu entscheiden, welches Gut höher wiegt: die Kunstfreiheit des Chorleiters, sich seine Stimmen selbst auszusuchen, oder das Recht auf Gleichbehandlung der Geschlechter. Es entschied zugunsten der Kunstfreiheit und wies die Klage ab. Die Mutter wandte sich deshalb an die nächsthöhere Instanz.

Der Richter stellt erst mal viele Fragen zu den aktuellen Kulturdebatten

Vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg stellt der Vorsitzende Richter am Freitag erst mal viele Fragen zu den aktuellen Kulturdebatten. Darf ein Ballett eine schwarze Ballerina vom "Schwanensee" ausschließen, weil Schwäne in einer bestimmten Inszenierung zwingend weiß sein müssen? Darf ein weißer Tenor den Part des Othello singen? Soll die Übersetzerin der Lyrikerin Amanda Gorman eine ähnliche Person sein wie sie, also eine junge schwarze Frau? Die Fragen bleiben unbeantwortet, weil man sie in jedem Einzelfall neu entscheiden muss und sich der gesellschaftliche Diskurs ändert. Der Richter gibt aber noch ein anderes Argument zu bedenken: den Zugang zu Bildung nämlich. Denn ein Chor, der zu einer staatlichen Universität gehört, ist auch eine Bildungseinrichtung, und der Verfassung des Landes Berlin zufolge müsse Bildung für alle gleichermaßen zugänglich sein.

Das sieht auch Rechtsanwältin Bräcklein so: Denn der Grund, warum sie sich für ihre Tochter einen Knabenchor wünscht, seien die Ressourcen. Knabenchöre erhielten die bessere Ausbildung, hätten mehr Auftritte und dadurch auch mehr finanzielle Möglichkeiten. "Wir untersagen den Mädchen heute zwar nicht mehr wie der Apostel Paulus das Singen, aber wir halten sie von der herausragenden Qualität der Ressourcen fern."

Am Ende verliert Susann Bräcklein abermals vor Gericht. Das Oberverwaltungsgericht weist die Berufung ab. Zum einen sieht es im Knabenchor selbst einen "Meinungswandel". Es habe eine Entwicklung gegeben von der schroffen ersten Ablehnung durch den Dekan bis zur Erkenntnis, dass auch geeignete Mädchen im Knabenchor mitsingen dürfen, Mädchen würden also nicht per se ausgeschlossen. Zum anderen habe das Vorsingen ergeben, dass das Mädchen nicht die für den Konzertchor nötige Qualifikation mitgebracht habe. Eine Revision wurde nicht zugelassen.

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