Erdbeben 

„Egal wie viele Videos du gesehen hast: Es ist nichts verglichen mit der Realität“

Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien ist eine Katastrophe, deren Ausmaße kaum zu fassen sind. Drei freiwillige Helfer:innen erzählen, was sie erlebt haben.

Protokolle von Yunus Gündüz
9. März 2023 - 6 Min. Lesezeit

Am 6. Februar erschütterten zwei Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 den Südosten der Türkei und das nördliche Syrien. Mittlerweile ist die Zahl der Toten in beiden Ländern auf mindestens 52 000 Menschen gestiegen. In der Türkei sind etwa 200 000 Gebäude zerstört. In den betroffenen Regionen fehlt es häufig an den nötigsten Dingen.

Wegen des Bürgerkriegs in Syrien konnte Hilfe erst besonders spät in das Land gelangen. Viele private Helfer:innen und Hilfsorganisationen machten sich auf den Weg in die Türkei, um Spenden zu übergeben oder mit den Betroffenen gemeinsam nach Überlebenden zu graben. 

Drei von ihnen erzählen von ihren Einsätzen vor Ort. Von Geisterstädten, kleinen Geschenken und selbstlosen Baggerfahrern.

Sinan, 31, ist Unternehmer und sammelte Spenden. Dann wollte er sicherstellen, dass diese ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Sinan, 31, ist Unternehmer und sammelte Spenden. Dann wollte er sicherstellen, dass diese ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

„Kurz vor unserem Abflug hieß es, dass es nicht mehr genug Leichentücher gibt – was für eine bittere Nachricht. Meine Kontakte im Erdbebengebiet schrieben mir das. Sie fragten, ob wir neue besorgen könnten. Das erste, was mir vor Ort durch den Kopf gegangen ist: ,Das ist der Tag des Jüngsten Gerichts.‘ Egal wie viele Videos du vorher gesehen hast: Es ist nichts verglichen mit der Realität. Auf der ersten Reise waren wir zehn, auf der zweiten Reise acht Helfer. Als wir ankamen, brauchten wir erst mal ein paar Stunden, um uns zu sammeln. Wir sind unerfahren und mussten schnell lernen, wie wir die Menschen unterstützen können.

Wir haben einige Transporter gemietet und sind mit Hilfsgütern von Ort zu Ort gefahren. Überall ist der Bedarf unterschiedlich. Wir kamen in Hatay bei etwa 15 Grad an. Dort fehlten vor allem Zelte. Dann kamen wir nach Kahramanmaraş – dort hatte es minus 20 Grad in der Nacht und es wurden vor allem Feuerholz und Kohle benötigt. Das musst du erst mal auftreiben, denn zwischen den beiden Orten ist alles dem Erdboden gleich. Verglichen mit den Umständen um uns herum war es purer Luxus, dass wir die Nacht in den Autos verbringen konnten. In den Dörfern waren wir zum Teil die ersten Helfer vor Ort, denn die Hilfe konzentriert sich dort, wo die meisten Menschen sind. Die Dörfer sind zum Teil sehr abgeschieden und schwer erreichbar. Die Straßen waren wie aufgesprengt und aufgespalten, wir hatten Schwierigkeiten, von einem Erdbebengebiet ins nächste zu kommen.

In einem Dorf in der Nähe von Kahramanmaraş kam ein Berg von einem Mann um die 60 auf mich zu. Als ich ihn gefragt habe, was er braucht, sagte er zu mir: ,Mein Junge, ich weiß es auch nicht.‘ Wir sind zu seinem Haus gegangen, um uns das selbst anzuschauen. Dort schlafen er und seine Frau weiterhin, weil sie bei der Kälte keine andere Möglichkeit haben. Das Gebäude wäre umgekippt, wenn ich einmal gegen die Wand getreten hätte. Wir haben ihm ein Zelt aufgebaut und Hilfsgüter dagelassen. Er dachte wohl, wir seien von der Regierung, und fragte komplett aufgelöst, wann sein Haus abgerissen und wann ein neues gebaut werden kann. Ihn weinen zu sehen, hat mich fertig gemacht.

Ich bin wieder in Deutschland, aber habe noch meine türkische Nummer und kriege alle zehn Minuten Nachrichten von Leuten, die nach Zelten und dergleichen fragen. Es bedrückt mich jedes Mal, ihnen sagen zu müssen, dass ich wieder in Deutschland bin. Die Menschen brauchen so schnell wie möglich Wohnmöglichkeiten, seien es freie Wohnungen in anderen Städten oder Wohncontainer.“

Yasemin, 35, ist Psychologin in München. Nach dem Ende der ersten Rettungseinsätze flog sie mit 15 Kolleg:innen aus dem medizinischen Bereich ins Erdbebengebiet, um dort bei der psychologischen und medizinischen Weiterversorgung zu helfen.

Yasemin, 35, ist Psychologin in München. Nach dem Ende der ersten Rettungseinsätze flog sie mit 15 Kolleg:innen aus dem medizinischen Bereich ins Erdbebengebiet, um dort bei der psychologischen und medizinischen Weiterversorgung zu helfen.

„Ich habe mich in München sehr schnell mit Freunden und Kollegen zusammengefunden und besprochen, was wir machen können. Das türkische Konsulat in München hat uns unterstützt. Wir wollten rezeptpflichtige Medikamente, Fiebersenker und Medikamente für Kinder mitnehmen, die man ohne Erlaubnis nicht einfach so in größeren Mengen einführen darf. Um uns das zu ermöglichen, hat uns noch spät am Abend ein Mitarbeiter Einfuhrgenehmigungen ausgestellt.

Wir sind in Adana gelandet und haben uns von dort ein Auto gemietet. Anschließend sind wir nach Osmaniye gefahren und später weiter nach Nurdağı bei Gaziantep sowie Hatay. Vor Ort merkt man sofort, dass die Situation weitaus düsterer ist, als Nachrichten und Fernsehen es abbilden können. Wer schon mal in der Türkei war, weiß vielleicht: Eigentlich sind überall Tauben, streunende Katzen, Hunde – ich habe dort kein einziges freilaufendes Tier gesehen.

Diese Situation kann keine Regierung dieser Welt allein lösen. Es braucht die Hilfe von Freiwilligen. Ich habe mich neben materiellen und medizinischen Hilfen viel um die Kinder vor Ort gekümmert. Wir haben zwischen Zelten Reise nach Jerusalem oder Fangen gespielt. Ich habe mich mit den Kleinen unterhalten, gemalt und versucht, mit ihnen das Erlebte spielerisch zu verarbeiten. Ich glaube, es gab nichts Schwierigeres für mich, als Kindern zu erklären, dass sie ihre Eltern verloren haben. Es war herzzerreißend und gleichzeitig ermutigend zu sehen, dass die Kinder lachen und spielen konnten, trotz aller Umstände.

Ihnen fehlte es augenscheinlich an allem, aber nicht an Hoffnung. Da ist es meiner Meinung nach wichtig anzusetzen. Neben sicheren Wohnungen für die Menschen wünsche ich mir vor allem, dass Mediziner, Psychologen und Sozialarbeiter niedrigschwellige Therapien und Hilfen anbieten, dass wir vor allem die Kinder langfristig nicht allein lassen.

Wir sind in einem Hotel untergekommen, das natürlich nicht im regulären Betrieb war. An meinem zweiten Tag kam es zu einem recht starken Nachbeben. Seitdem habe ich mir jede Nacht Gedanken gemacht: Wie lange reicht die Luft in diesem Raum? Wie lange könnte man im eingestürzten Hotel überleben? Ich bin ständig aufgewacht mit dem Bild vor Augen, wie ich unter Schutt liege. Da habe ich erst richtig gemerkt, was wohl die wirklich betroffenen Menschen durchmachen müssen.“

Anton, 31, ist ehrenamtlich beim Technischen Hilfswerk aktiv und Teil einer Schnelleinsatztruppe. Als Gruppenleiter steht er einem Team von 14 Personen vor, die sich auf die Rettung und Bergung im städtischen Raum spezialisiert haben.

Anton, 31, ist ehrenamtlich beim Technischen Hilfswerk aktiv und Teil einer Schnelleinsatztruppe. Als Gruppenleiter steht er einem Team von 14 Personen vor, die sich auf die Rettung und Bergung im städtischen Raum spezialisiert haben.

„Wir wussten zwar, was uns erwartet, schließlich trainieren wir für genau solche Fälle. Aber wenn man vor Ort ist, erschlägt es einen. Unsere Einsatzeinheit wurde in Kırıkhan in der Region Hatay eingesetzt. Im Grunde war jedes Gebäude schwer beschädigt oder zerstört. Der Ort lag genau auf einer Verwerfungslinie. Das hieß für uns und unsere Arbeit: Bei einem Nachbeben ist das alles Gefahrenzone. Wir haben mit Hunden und Ortungsgeräten nach Lebenszeichen gesucht. Dabei mussten wir priorisieren und die Rettungsarbeiten mit unserer Technik unterstützen. Es belastet mich sehr, an die Menschen dort zu denken. Sie haben jetzt kein Obdach und werden die nächste Zeit auch kein Obdach haben – zerstörte Infrastruktur, zerstörte Wasserleitungen, kein Strom.

Wenn alles zerstört ist, steht man vor einer Aufgabe, von der man eigentlich weiß, dass man sie nicht in Gänze lösen kann. Das ist auch die besondere Hürde dieser Aufgabe. Der Riss ist hunderte von Kilometern lang und zieht sich durch mehrere Großstädte. Da kann ich mich als Einsatzeinheit nur auf einen Punkt konzentrieren und versuchen, im meinem kleinen Einsatzgebiet das Maximum rauszuholen.

Trotz dieser großen Katastrophe gab es eine immense Hilfsbereitschaft. Wie wir da aufgefangen und integriert wurden – das ist Wahnsinn. Die Grenzen zwischen Anwohnern, Militär, Zivilisten und Teams aus dem Ausland verschwimmen vor dem Ziel, zu helfen. Wir nehmen als Team eigentlich immer unseren eigenen Proviant mit. Denn wir wollen eine Hilfe und keine zusätzliche Last sein. In der Realität komme ich irgendwohin, und das Erste, was passiert: Anwohner, Angehörige und sogar andere Teams bieten dir Essen und Trinken an. Ihr habt doch selbst nicht genug, denke ich mir, aber das Wenige, was da ist, wird trotzdem geteilt.

Während des Einsatzes stand ich die ganze Zeit unter Strom. Zuhause habe ich erst so richtig verstanden, was es heißt, ein Dach über dem Kopf, Wasser und Strom zu haben. Viele Menschen haben mir gesagt, dass sie für meine Arbeit dankbar sind. Aber Dankbarkeit gebührt eigentlich den Menschen im Erdbebengebiet, die dort tagtäglich und Stunde für Stunde viel mehr geben, als uns überhaupt möglich war.“

Transparenzhinweis: In einer früheren Version dieses Textes sprach auch ein Protagonist, auf dessen Jacke ein Aufnäher der rechtsextremen Gruppierung der Grauen Wölfe zu sehen war. Das ist der Redaktion erst nach Veröffentlichung aufgefallen. Wir haben uns entschieden, den Beitrag des Protagonisten aus dem Text zu nehmen und bitten, den Fehler zu entschuldigen. 

Team
Text Yunus Gündüz
Digitales Storytelling SZ Jetzt