Chatkontrolle:Wenn Software Väter als Pädophile verdächtigt

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Mit der sogenannten Chatkontrolle will die EU in Messengerdiensten mithilfe von Software Kindesmissbrauch aufspüren. (Foto: Emilio Morenatti/AP)

Zwei Männer machen auf ärztlichen Wunsch Fotos ihrer Kinder, kurz darauf ermittelt die Polizei. Das zeigt: Die EU-Kommission muss die geplante Chatkontrolle stoppen - denn selbst der Kampf gegen Kindesmissbrauch rechtfertigt nicht alle Mittel.

Kommentar von Simon Hurtz, Berlin

Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. So rechtfertigen Befürworter von Überwachungsmaßnahmen gern schärfere Gesetze. Wie gefährlich dieses Argument ist, zeigen Mark und Cassio. Beide Väter schilderten ihre Erfahrungen der New York Times. Sie machten sich Sorgen um ihre kranken Kinder, konsultierten einen Arzt, schickten auf dessen Wunsch hin Fotos des Genitalbereichs- und sahen sich einem grauenhaften Verdacht ausgesetzt: Sie hätten illegale Nacktaufnahmen ihrer eigenen Kinder verbreitet.

Die Polizei hat die Ermittlungen in beiden Fällen eingestellt, für die zu Unrecht verdächtigten Männer haben die Vorwürfe aber langfristige Konsequenzen. Sie können nicht mehr auf ihre Google-Konten zugreifen und haben alle E-Mails, Dokumente, Kontakte und Fotos aus mehr als einem Jahrzehnt verloren. Denn so gerieten Mark und Cassio überhaupt erst ins Visier der Ermittler: Ihre Android-Handys speicherten die Bilder bei Google Fotos, wo sie automatisch als mutmaßliche Darstellungen von Kindesmissbrauch eingestuft wurden.

Überwachungssystem mit Schattenseiten

Mark und Cassio sind zwei von mehr als 270 000 Google-Nutzern, deren Konten im vergangenen Jahr gesperrt wurden, weil sie Aufnahmen von Kindesmissbrauch erstellt oder verbreitet haben sollen. Schlägt die Software Alarm, prüft ein Google-Mitarbeiter die Fotos oder Videos und verständigt eine Kinderschutzorganisation, die Strafverfolgungsbehörden informiert. Kindesmissbrauch ist eines der fürchterlichsten Verbrechen, zu dem Menschen in der Lage sind. Es ist gut, dass Täter ermittelt und Kinder geschützt werden. Doch wenn der Verdacht auf Unschuldige fällt, zeigen sich die Schattenseiten des Überwachungssystems.

Was die beiden Väter erlebt haben, lässt drei Rückschlüsse zu. Der erste betrifft alle Menschen, die den Großteil ihres digitalen Lebens bei einem Anbieter wie Google aufbewahren. Ohne eigenes Verschulden kann auf einen Schlag alles weg sein. Google weigert sich bis heute, die Konten der beiden Männer wiederherzustellen. Am besten verteilt man seine E-Mails, Dokumente und Fotos auf unterschiedliche Dienste oder lädt zumindest regelmäßig Sicherungskopien der Daten herunter.

Der zweite betrifft alle Eltern und Großeltern. Wer nackte oder halbbekleidete Kinder fotografiert, muss vorsichtig sein. Wenn Zweijährige vergnügt im Swimmingpool planschen, mag das Erinnerungsvideo für die Eltern harmlos sein - für eine Software ist es möglicherweise verdächtig. Genauso riskant ist es, auf Anraten einer Kinderärztin den Verlauf einer Entzündung in der Leistengegend mit Fotos zu dokumentieren. Solche Bilder sollte man niemals bei Cloud-Diensten speichern, ausschließlich mit einem sicher verschlüsselten Messenger verschicken und danach wieder löschen.

Keine Privatsphäre mehr in Messengern

Bald könnten auch diese Vorsichtsmaßnahmen zu wenig sein. Denn, und das ist die dritte Lehre aus den Erfahrungen von Mark und Cassio, die EU-Kommission strebt eine Form der anlasslosen Massenüberwachung an, die tief in die Privatsphäre von Hunderten Millionen Menschen eingreift. Sollten die Pläne umgesetzt werden, müssten Messenger alle Nachrichteninhalte durchleuchten, um Kindesmissbrauch aufzuspüren - mit ähnlicher Software, die Google, Facebook und andere Unternehmen bereits jetzt einsetzen, um unverschlüsselte Fotos zu scannen.

Das beträfe auch Anbieter wie Signal oder Threema, die Chats absichtlich so verschlüsseln, dass sie selbst unter keinen Umständen mitlesen können. Whatsapp erfasst zwar, wer wann und von wo aus mit wem kommuniziert, und teilt diese Informationen auch mit dem Mutterkonzern Meta, kann auf die Inhalte der Nachrichten aber ebenfalls nicht zugreifen. Die EU-Kommission fürchtet, dass Pädophile die Verschlüsselung nutzen, um sich unbemerkt an Kinder heranzumachen oder illegales Material auszutauschen.

Die Chatkontrolle geht zu weit

Gegen die sogenannte Chatkontrolle sind nicht nur Bürgerrechtler und Datenschützerinnen. Auch die deutsche Bundesregierung um Innenministerin Nancy Faeser und Digitalminister Volker Wissing kritisiert das Vorhaben als unverhältnismäßig. Die beiden Fälle aus den USA zeigen, dass die Sorgen berechtigt sind. Selbst die EU-Kommission gibt zu, dass die Software extrem fehleranfällig ist. Das bedeutet: Massenweise sensible Nachrichten und intime Fotos von Unschuldigen landeten bei einer EU-Behörde. Niemand kann noch sicher sein, dass private Kommunikation privat bleibt.

Die meisten Täter nutzen ohnehin andere Methoden, um das illegale Material zu tauschen. Strafverfolgung scheitert nicht an zu wenig Daten, sondern an zu wenig Ressourcen: geschulte Ermittlerinnen und Behörden mit technischer Kompetenz. Der Kampf gegen Kindesmissbrauch rechtfertigt viele Mittel, aber nicht alle. Die geplante Chatkontrolle geht den entscheidenden Schritt zu weit. Selbst wer nichts zu verbergen hat, hätte plötzlich etwas zu befürchten.

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